7. HW-Talk: „Wirecard betrog ein System, das betrogen werden wollte“

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Aufsichtsrat, Finanzaufsicht, Finanzministerium, Wirtschaftsprüfer, Staatsanwaltschaft und viele mehr – die Liste der Instanzen, die nach Ansicht des Handelsblatt-Redakteurs und Buchautors Felix Holtermann im Fall Wirecard schwere Fehler zu verantworten haben, ist lang. Im Gespräch mit Hedgework-Gastgeber Uwe Lill sagt Holtermann, dass die Aufarbeitung noch lange nicht abgeschlossen ist und noch viele Reformbaustellen offen sind.

Nachfolgend finden Sie eine Zusammenfassung des Podcasts:

Uwe Lill: Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Hedgeworkerinnen und Hedgeworker. Mein Name ist Uwe Lill und ich bin der Initiator der Hedgework Reihe. Wie Sie wissen, beschäftigen wir uns normalerweise um Themen rund um alternative, nachhaltige und digitale Investments. Das ist heute ein bisschen schwierig, denn heute beschäftigen wir uns ja mit allen Vorgängen rund um das Skandalunternehmen Wirecard. Ich habe mir überlegt, so eine Art alternatives Investment war es auch. Das ist aber ein bisschen Zynismus, das gebe ich zu. Nachhaltig war es auf keinen Fall und digitale Komponenten hat es auf jeden Fall gehabt. Mein Gast ist heute Felix Holtermann, Finanzkorrespondent beim Handelsblatt und, das Thema heute, Autor des Buches "Geniale Betrüger wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt". Lassen Sie mich noch zwei Takte zu Felix Holtermann sagen. Ein junger Journalist, Kölner Journalistenschule, Studium VWL und Politik, Crossmediales Volontariat beim WDR als Wirtschaftsredakteur. 2017 zum Handelsblatt gekommen, 2019 zum Finanzkorrespondenten aufgestiegen. Das ja auch, wo er den deutschen Journalistenpreis bekommen hat und 2021 legt er jetzt das Buch "Geniale Betrüger" dreihundertzehn Seiten vor. Erschienen im Westend Verlag, 22 Euro. Ich lege es Ihnen dringend ans Herz. Damit Sie die Dinge lernen, wo man darauf achten muss, dass man nicht letztendlich draufzahlt. Herr Holtmann, ich begrüße Sie ganz herzlich, freue mich, dass Sie heute zum Gespräch zur Verfügung stehen. Wann haben Sie denn den Entschluss gefasst, so ein Buch zu schreiben?

[00:02:09.240]

Felix Holtermann: Oh ja, wie das mit diesen Entschlüssen so ist. Ehrlich gesagt habe ich den gar nicht gefasst, sondern der Verlag ist auf mich zugekommen. Es sind im Spätsommer 2020 zwei Verlage auf mich zugekommen. Einer war der Westend Verlag und ich hatte dort ein gutes Gefühl. Wir hatten gute Gespräche. Es hat Spaß gemacht, das Thema zu entwickeln. Vielleicht hilft es mir, mit Wirecard ein kleines Zwischenfazit zu ziehen. Ich habe letztes Jahr zweimal von Wirecard geträumt und da dachte ich dann Hoppla, jetzt ist es passiert, jetzt musst du was machen. Und vielleicht auch für dich mal ein paar Linien klar ziehen.

Uwe Lill: Also wenn Sie schon träumen, dann ist das ja ein klares Zeichen, dass Sie das abarbeiten müssen. Ja, ich will gar nicht so sehr auf auf Wirecard, das hat ja jeder gelesen, der sich dafür interessiert, die Berichterstattung eingehen. Aber vielleicht ganz kurz von der Thematik selber. Sie schwanken ja auch im Buch. Einerseits ist es ein Bilanzbetrug und wird als solcher gesehen, auf der anderen Seite ist es eine riesige Geldwäschenummer und wird auch so gesehen. Was wiegt denn für Sie schwerer da?

[00:03:18.120]

Felix Holtermann: Wirecard geht unter aufgrund des Bilanzbetrugs, also der Untergang eines Dax-Konzerns in sieben Tagen und sieben Nächten. Etwas, was in der deutschen Wirtschaftsgeschichte auch noch nicht gab. Wir wissen, Dax-Konzerne können untergehen. Normalerweise dauert es aber Jahre und Jahrzehnte. Dieses Phänomen ist erklärbar durch den Finanz Betrug, als der aufgedeckt wird, als klar ist, dass 1,9 Milliarden Euro, also ein Viertel der Bilanzsumme in der Kasse fehlt, ist Wirecard Pleite und die Financial Times, insbesondere der Reporter Dan McCrum aus London. Wir haben da den ganz, ganz maßgeblichen Anteil daran, die Aufdeckung dieses Bilanz Betrugs ins Rollen zu bringen. Trotzdem denke ich, dass wir auch die Geldwäsche nicht vergessen können. Ich bin fest davon überzeugt, hätte man früher in die Geldwäsche-Problematik von Wirecard reingeschaut, hätten sich das Aufsichtsbehörden, Staatsanwälte, Politiker, Prüfer genauer angeschaut. Dann wäre es vielleicht nie zu diesem Milliarden-Bilanz-Betrug gekommen und dann hätten auch nicht so viele abertausende Anleger ihr komplettes Erspartes verloren. Warum glaube ich das? Wir sehen ganz klar, Wirecard ist von Anfang an ein Konzern, der oft eher den krummen Weg als den Geraden geht. Und um Zahlungsabwicklung für illegale, betrügerische, dubiose Geschäftsmodelle durchzuführen, ersinnt Wirecard in den Nullerjahren Auslands-Gesellschaften, ein sogenanntes Drittpartner-Netzwerk und dieses Netzwerk dient eigentlich zur Verschleierung problematischer Zahlungen für Geldwäsche. Das erweist sich dann nach 2010 offensichtlich als prädestiniert dafür, noch ein zweites Verbrechen zu begehen, nämlich eben den Bilanzbetrug und so hängen die beiden ganz eng zusammen und lassen sich in meinen Augen auch nicht voneinander trennen.

[00:05:10.370]

Uwe Lill: Wir haben zwar zwei Köpfe, die nach außen dafür stehen Markus Braun und Jan Marsalek, sozusagen die bad guys auf der Wirecard-Seite. Aber sie haben eine Kapitelüberschrift, die das Ganze so ein bisschen relativiert, das Bananen-System Deutschland. "Ein Finanzplatz will betrogen werden" ist Ihre Überschrift. Erklären Sie das Mal.

Felix Holtermann: Es wäre recht einfach Wirecard als Kriminalfall aus dem Münchner Gewerbegebiet zu beschreiben, wo praktisch eine Gangsterbande ihr Unwesen treibt zwischen Bahngleisen und Autokino und praktisch das System Deutschland einfach durch raffinierte kriminelle Energie betrügt. Dann wäre es ein reiner Kriminalfall. Der wird jetzt aufgearbeitet. Gut, ein Vorstand ist auf der Flucht. Ein anderer sitzt in Untersuchungshaft. Noch ist niemand verurteilt. Es gilt für alle Beteiligten die Unschuldsvermutung. Das wäre recht einfach. Das wäre wahrscheinlich auch insbesondere auch für die deutsche Politik, für die deutsche Aufsicht, das angenehmste Fazit dieses Skandals. Ich glaube daran nicht. Ich glaube tatsächlich, ja, Wirecard betrog ein System, das betrogen werden wollte. Wie komme ich dazu? Frappierend ist im Fall Wirecard das multiple Systemversagen, so möchte ich es mal nennen, von praktisch allen relevanten Akteuren am deutschen Finanzplatz. Die Medien übrigens sollte man da nicht ausnehmen, aber insbesondere ganz schwere Fehler sind gemacht worden, bei den Wirtschaftsprüfern von Ernst und Young, bei der Finanzaufsicht, bei der BaFin, bei der Prüfung der Bilanzierung der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung DPR, bei der Wirtschaftsprüferaufsicht APAS und anderen Akteuren. Und wenn man sich vieles anschaut, was erst nach dem Untergang des Konzerns jetzt zusätzlich noch aufgekommen ist, was wir jetzt erst wissen, insbesondere auch das Lobbying bis in höchste politische Kreise von Wirecard, dann kriegt man ein Gefühl davon, dass es hier nicht nur um das Handeln weniger Gangster geht. Was ist mit diesem „will betrogen werden“ gemeint? Naja, was ich auch glaube, ist, dass Wirecard es zwei Jahrzehnte auf raffinierte Art und Weise geschafft hat, eine deutsche Sehnsucht zu befriedigen bzw. auch eine deutsche Angst zu kapitalisieren. Deutschland wird immer beschrieben als „old economy“, als Land der Autobauer, der Schraubenhändler wir haben den Anschluss an die Zukunft verpasst. Das Silicon Valley ist weit weg, so wird es immer erzählt. Der letzte erfolgreiche deutsche Digitalkonzern von Weltrang SAP ist auch schon ein paar Jahrzehnte alt. Da kommt Wirecard, da kommt Markus Braun, der langjährige Vorstandsvorsitzende, der auftritt wie Steve Jobs im schwarzen Rollkragenpulli. Da kommen die Erzählungen aus Aschheim, wir experimentieren mit künstlicher Intelligenz, mit Blockchain. Wir kennen das Bezahlen von übermorgen. Vieles davon ist im Nachhinein Scharade und aufgeblasen. Aber viele haben daran gerne geglaubt. Viele haben da mitgeträumt. Und das gilt übrigens auch für viele Anleger. Und ohne dieses Narrativ und ohne die Schützenhilfe auch tatsächlich von ganz oben, glaube ich, hätte Wirecard nicht 20 Jahre so agieren können, wie der Konzern agiert hat.

[00:08:23.260]

Uwe Lill: Das führt uns gleich zur nächsten Frage. Die haben sie auch überschrieben. "Kontrolle? Fehlanzeige. Wie alle internen Instanzen versagen". Lassen Sie uns mal ein paar Minuten noch auf diese Instanzen eingehen. Wir haben ja beispielsweise Aufsichtsräte. Wir kämpfen doch seit Jahrzehnten um „good governance“ in Deutschland. Meine Güte, was hat es schon für Kommissionen gegeben, die sich hier den Kopf um good governance zerbrochen haben. Machen Sie mal ein Zwischenfazit. Wohin hat es denn geführt mit der good governance bei Wirecard?

Felix Holtermann: Bei Wirecard tatsächlich nicht so weit. Das ist ganz interessant. Der Konzern hat logischerweise als Aktiengesellschaft einen Aufsichtsrat, der ist lange relativ klein. Der besteht lange nur aus drei Mitgliedern, wird dann aber später erweitert. Der ist sogar am Ende – divers will ich jetzt nicht sagen – aber immerhin gibt es auch zwei Frauen im Aufsichtsrat, es gibt Experten aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Das sind jetzt auf den ersten Blick nicht nur Grüßauguste, sondern das sind durchaus Leute, da haben wir einen ehemaligen Deutschland-Chef, Vorstand der Credit Suisse dabei, da haben wir eine Expertin für künstliche Intelligenz dabei. Will sagen, der Aufsichtsrat ist ein Aufsichtsrat, wo man ja eigentlich erwarten würde, der kommt seiner Aufgabe wahr, die ihn ja auch das deutsche Gesetz zuschreibt und natürlich auch die vielen Corporate Governance Regeln in Deutschland. Im Fall Wirecard funktioniert das nicht, viele Jahre nicht. Wir sehen das jetzt auch durch interne Dokumente. Wir sehen zum Beispiel die Protokolle des Aufsichtsrats der vergangenen Jahre, die wir einsehen können. Da sehen wir, dass viele Jahre hinweg der Vorstand sich praktisch keinerlei kritischen Fragen stellen muss. Also die Idee, die sich im Fall Wirecard als naiv herausstellt, dass der Aufsichtsrat auch dafür da ist, den Vorstand zu kontrollieren, zu beaufsichtigen, zu hinterfragen, zu challengen. Das findet bei Wirecard praktisch nicht statt. Aufsichtsratssitzungen sind gerne am Freitagnachmittag und man möchte dann offenbar auch ins Wochenende. So sieht man es an den Protokollen. Bei Angriffen von außen, da folgt der Aufsichtsrat immer ganz klar dem Narrativ des Vorstands in vielerlei Hinsicht, dass das böse short-seller sind, also angelsächsische Investoren, die den Konzern sozusagen kaputtmachen wollen, um selbst dran zu verdienen usw. Und all das, was man von dem Aufsichtsrat wirklich erwarten würde, passiert nicht. Ein besonders drastisches Beispiel sehen wir eine Zusammenarbeit mit dem Wirtschaftsprüfer von Ernst Young. Die warnen schon Jahre vor der Pleite den Aufsichtsrat. Man habe Zweifel "an der Integrität des Managements". Und da sagen jetzt viele, ein schärferes Warnsignal vom eigenen Abschlussprüfer, der ja immerhin seit 2010 den Konzern kennt, gibt es eigentlich gar nicht. Und der Aufsichtsrat zieht daraus offensichtlich nicht die richtigen Konsequenzen. Wie ein anders besetzter Aufsichtsrat vielleicht ein Unterschied machen kann, sehen wir dann ein Jahr vor dem Schluss, da zieht tThomas Eichelmann in den Aufsichtsrat ein. Der frühere Deutsche Börse Manager, ein unabhängiger Mann von außen, auch nicht verstrickt mit dem alten Management, wie wir das teilweise bei anderen sehen, durch private Geschäfte in der Vergangenheit. Und Thomas Eichelmann, auch dem kann man Vorhaltungen machen. Viele Anleger nehmen ihm zum Beispiel ein Interview im Manager Magazin übel, wo er sie in Sicherheit gewogen hätte, Anfang 2020. Aber da muss man sagen, Thomas Eichelmann setzt parallel zum Großinvestor Softbank die KPMG Sonderprüfung durch gegenüber dem Vorstand. Er formuliert auch den sehr extensiven Prüfauftrag von KPMG. Und am Ende entlässt er eben auch Markus Braun und arbeitet an einer Neuaufstellung. Den Konzern rettet das nicht. Das muss man sagen. Aber welchen Unterschied ein etwas kritischerer, selbstbewussterer Aufsichtsrat machen kann, das sehen wir hier wie unter dem Brennglas. Und eben auch umso krasser die vielen Verfehlungen in den Jahren davor.

[00:12:30.370]

Uwe Lill: Lassen Sie uns eher die politische Ebene und die Institutionen-Ebene ansehen. Also mir erscheint es klar, wir alle wissen von der BaFin, das ist genug diskutiert worden oder vielleicht noch nicht genug. Insbesondere das Leerverkaufsverbot, das ja sehr viele als völligen Skandal empfunden haben. Auch völlig zu Recht. Aber ich habe das Gefühl, es ist ein wahnsinniger Kompetenzen-Wirrwarr, ein Hin-und-Her-Geschiebe, das dann natürlich seinen Ausdruck findet in den Untersuchungsausschüssen, wo die Höchsten der Hohen dann auf einmal sagen: „Ja, das ist alles komisch gelaufen, aber die Schuld hat hier natürlich überhaupt keiner“. Machen Sie doch mal ein Fazit zur BaFin und Kompetenzen. Wie hat sich das für Sie im Rahmen der Recherche dargestellt?

Felix Holtermann: Ich fand es extrem interessant, wie die BaFin im Fall Wirecard agiert. Die BaFin macht eigentlich drei Kardinalfehler. Kardinalfehler Nummer eins, die BaFin beaufsichtigt Wirecard. zumindest mit ihrer Bankenaufsicht nicht als Ganzes. Die BaFin entscheidet sich sehr früh, den Konzern als Technologieunternehmen einzustufen, nicht als Finanzholding. Das führt dazu, dass sie eben in der Bankenaufsicht nur auf die sehr kleine Wirecard Bank schaut und viele andere problematische Geschäfte im Restkonzern sozusagen, der deutlich größer war, übersieht. Zweiter Fehler ist dann im Jahr 2019: die BaFin geht gegen die kritischen Journalisten vor. Gegen Dan McCrum und seine Kollegin von der Financial Times, zeigt die sogar an bei der Staatsanwaltschaft München. Die BaFin vermutet hier ausweislich z.B. eines internen Papiers eine "angelsächsisch-israelische Verschwörung". Da muss man dann auch noch an anderes denken. Die BaFin fällt da vollkommen auf dieses Narrativ herein, dass alle Short Seller, ja praktisch böse, von Eigeninteresse getriebene Akteure sind. Und ja, wir können jetzt kritisch diskutieren über die Rolle der Short Seller. Das sind sicher keine Waisenknaben, aber sie erfüllen insofern eine wichtige Funktion im Finanzmarkt, als sie oft als erste auf mögliche Fehler aufmerksam machen. Und allein die Tatsache, dass die BaFin oft nicht ans Telefon geht bzw. dort niemand Englisch spricht bzw. sich niemand für diese Ergebnisse interessiert, das lässt doch tief blicken. Auch bezüglich der Provinzialität und nicht der Internationalität des deutschen Finanzmarkts. Der dritte Kardinalfehler passiert dann im Frühjahr 2019. Die BaFin verhängt ein Leerverkaufsverbot. Sie verbietet also, auf fallende Wirecard-Kurse zu spekulieren, stützt damit den Aktienkurs und viel wichtiger: Die BaFin wiegt dadurch viele Anleger in Sicherheit. Und das schreiben damals auch Großinvestoren z.B. in ihrer Research-Paper. Dass sich der Finanzplatz Deutschland vor diesen Konzern stellt, der von bösen auswärtigen Mächten schlecht gemacht werden soll. Das Kompetenzwirrwarr sehen wir auch im Fall Wirecard. Die Anzahl an staatlichen Stellen, die hier eigentlich hätten hinschauen müssen, die sich aber offensichtlich alle aufeinander verlassen, die ist riesig groß: Die BaFin. die Wirtschaftsprüferaufsicht, die APAS, Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung, die Staatsanwaltschaft München, die Geldwäsche Aufsicht, die FIO, die beim Zoll angesiedelt ist, die bei Wirecard völlig versagt und viele andere Stellen bis hin zur Bezirksregierung in Bayern. Alle scheinen sich irgendwie gegenseitig aufeinander zu verlassen. Naja, wenn die anderen nicht scharf gegen den Konzern vorgehen, dann wird das schon als richtig sein, was wir machen. Und dieses Kompetenzwirrwarr, glaube ich, erklärt dann auch ein Teil des Nicht-Handeln bzw. noch schlimmer, das sich-vor-dem-Konzern-stellen von vielen deutschen Aufsehern.

[00:16:46.410]

Uwe Lill: Das führt uns jetzt zum Schlusskomplex. Sind denn Lehren daraus gezogen worden? Es gab einen Untersuchungsausschuss, den Sie intensiv verfolgt haben. Hat denn jemand eine Verantwortung übernommen? Ihr Buch, das will ich hier auch erwähnen, endet nicht in einem deskriptiven Teil, sondern Sie denken hier nach vorne. Sie sagen, es ist eine Frage des Systems. Sie machen auch eine Reihe von Vorschlägen, was sich ändern muss. Vielleicht nochmal zwei, drei Minuten zu diesem Themenkomplex. Wo stehen wir da? Wo geht's hin?

[00:17:23.910]

Felix Holtermann: Wer hat denn Verantwortung übernommen? Das ist tatsächlich eine sehr, sehr interessante Frage. Es gibt einen Akteur, einen wichtigen Akteur im Fall Wirecard der sich entschuldigt hat bei den Anlegern, bei der Öffentlichkeit, für dieses Desaster. Das ist jetzt allerdings nicht Bundesfinanzminister Olaf Scholz oder der Chef der Finanzaufsicht oder Kanzlerin Merkel oder Ernst & Young. Nein. Entschuldigt hat sich der Kronzeuge der Staatsanwaltschaft München in einer nächtlichen Sitzung im Untersuchungsausschuss, der ehemalige Dubai-Statthalter des Konzerns, dem schwerste Verstrickungen hier vorgeworfen werden, der auch umfassend ausgesagt hat, viele belastet hat, einschließlich sich selbst. Der hat sich entschuldigt. Es ist aber interessant, dass er der Einzige bisher geblieben ist. Wir haben andere gesehen, die sozusagen implizit Verantwortung übernommen haben. Der Chef der Finanzaufsicht BaFin, Felix Hufeld, ist zurückgetreten, Elisabeth Rögele, die Direktorin, die viele dieser Fehlentscheidungen, die wir vorhin besprochen haben, bei der BaFin verantwortet hat. Wir haben den APAS-Chef Ralf Bose, der musste zurücktreten, weil auch im Untersuchungsausschuss herauskam, dass er auf dem Höhepunkt der Prüfung seiner Behörde im Fall Wirecard selbst gezockt hat mit Wirecard Aktien. Das nochmal zum Thema Good Corporate Governance in Deutschland. Und wir haben auch den Ernst & Young-Chef gesehen, der die deutsche Ernst & Young nicht mehr führen wird, der allerdings sozusagen die Treppe nach oben fällt, nämlich befördert wird zum Leiter einer Europa-Einheit. Also interessant ist, dass sich bisher eigentlich von denen, von denen man es erwarten würde, niemand entschuldigt hat. Bundesfinanzminister Olaf Scholz und auch Kanzlerin Angela Merkel haben klar gesagt Natürlich darf so ein Fall nicht nochmal passieren. Und welche Schritte sind da gegangen? Ja, wir sehen erste Ansätze. Es ist nicht so, dass die Politik die Hände in den Schoß gelegt hat. Die neue BaFin Spitze Mark Branson kommt von der Finma von der Schweizer Finanzaufsicht hat den Auftrag, sagt Olaf Scholz, die Behörde zu einer Aufsicht mit "Biss" umzumodeln. Es gibt sehr viel strengere Regeln für Insiderhandel innerhalb der BaFin, innerhalb des Bundesfinanzministeriums. Olaf Scholz hat zusammen mit seinen Kabinettskollegen erste Vorschläge vorgelegt, z.B. zur Neustrukturierung der Wirtschaftsprüfung in Deutschland. Zur Neustrukturierung der Aufsicht. Die Große Koalition hat auch – Stichwort politisches Lobbying – bei Wirecard bis in höchste politische Kreise für den Konzern lobbyiert. Da ist ein neues Transparenzregister, was unabhängig von dem Fall ist, erarbeitet worden ist. Reicht das alles schon aus? Natürlich können wir einen zweiten Fall Wirecard nie ganz ausschließen. Die menschliche Phantasie ist unbegrenzt und damit auch die kriminelle Energie. Aber Ziel müsste es ja sein, einen zweiten Fall Wirecard möglichst unwahrscheinlich zu machen. Und da glaube ich: Nein, was wir bisher sehen, reicht noch nicht aus. Es gibt bisher völlige Leerstellen, also z.B., Wirtschaftsminister Peter Altmaier, von dem sind in Bezug auf seine Wirtschaftsprüfer Aufsicht APAS noch keine großen Reform-Vorschläge bekannt. Der scheint da offensichtlich gerade ganz angenehm unter dem Radar segeln zu wollen. Auch die Geldwäscheaufsicht in Deutschland ist noch eine völlige Leerstelle im Reformwerk. Olaf Scholz hat da Schritte angekündigt. Bisher sieht man da aber noch nichts. Die FIO beim Zoll hat völlig versagt. Übrigens nicht nur im Fall Wirecard. Eigentlich jeder, der sich damit beschäftigt, sagt Deutschland ist das Geldwäscheparadies Europas. Das muss sich schleunigst ändern. Und auch, ob die Schritte bei der BaFin schon ausreichen, werden wir sehen. Das wird natürlich auch davon abhängen, wie konsequent Mark Branson diese Behörde ummodelt. Auch was das Lobbyregister angeht. Da kann man deutlich nachschärfen und ich mache ja in meinem Buch noch einige andere Vorschläge. Zum Beispiel, dass das System der deutschen Aufsichtsräte und weiteres, das man sich anschauen muss. Hier ist, glaube ich, noch viel zu tun. Wichtig ist, dass wir nicht die Hände in den Schoß legen und dass wir verstehen, dass das System Wirecard ohne das System Deutschland zumindest nach meinem Dafürhalten nicht möglich gewesen wäre.

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