Zeitwende am Anleihenmarkt?

- Dr. Jan Viebig
- ODDO BHF SE
FRANKFURT – Die Zinsen dürften vorerst weiter steigen, fürchtet Prof. Dr. Jan Viebig, CIO bei ODDO BHF SE. Dafür sprechen einerseits die Aussagen von Fed-Chef Jerome Powell, wonach noch eines zu tun sei und andererseits die Taylor-Regel, die Viebig bemüht. Eine Änderung der Lage sieht er erst Anfang 2023.
Ab hier folgt der Marktkommentar von Prof. Dr. Jan Viebig, CIO ODDO BHF SE:
„Die Zinsen dürften weiter steigen, vermutlich über die derzeit am Markt eingepreisten Niveaus hinaus. Die Entscheidungen der EZB und der Federal Reserve (Fed) waren klar: Beide Zentralbanken haben die Leitzinsen um weitere 0,75% angehoben. Die Leitzinsen in Europa sind damit auf 2% (Hauptrefinanzierungssatz) und in den USA auf 4% (Obere Bandbreite der Fed Funds Rate) angestiegen. Starke Arbeitsmarktzahlen sowie die Kommentare von Fed-Chef Powell, dass man „noch einiges zu erledigen habe und das auch tun werde“, deuten darauf hin, dass die Leitzinsen weiter steigen werden.
Angesichts einer Verbraucherpreisinflation von 10,7% wird auch die EZB nicht darum herumkommen, die Leitzinsen weiter zu erhöhen. Wir erwarten, dass die EZB die Leitzinsen in mehreren Zinsschritten bis September 2023 weiter anheben wird. Überlegungen, dass aufgrund der erwarteten Wirtschaftsschwäche in den kommenden Monaten der Inflationsdruck schwächer werde und die Zinswende unmittelbar bevorstehe, möchten wir drei Argumente entgegensetzen.
1) Taylor-Regel
Die Taylor-Regel ist eine nach dem US-Ökonomen John B. Taylor benannte „Faustregel“ für die Beurteilung des Leitzinsniveaus im Hinblick auf die Ziele Vollbeschäftigung und Preisstabilität. Im Kern leitet die Taylor-Regel das „richtige“ Leitzinsniveau („Taylor-Zins“) aus dem Abstand zwischen dem Inflationsziel und der tatsächlichen Inflation und dem Abstand zwischen inflationsneutraler Arbeitslosenquote und tatsächlicher Arbeitslosenquote ab.
Abbildung 1: EZB Leitzins und Taylor-Zins
Quelle: Refinitiv Datastream, EZB; Zeitraum: 01.01.2015 – 31.10.2022;
Prognose: 01.11.2022 – 30.09.2023
Ein Vergleich zwischen dem tatsächlichen Leitzinsniveau und dem Taylor-Zins (siehe Abbildung 1) zeigt, dass die EZB Zinserhöhungen zu lange herausgezögert hat und dann zu langsam vorgegangen ist. Schreibt man die Entwicklung beider Kurven unter Zuhilfenahme der aktuellen Markterwartungen für Leitzins und (Kern-)Inflation in die Zukunft fort, dann zeigt die Taylor-Regel, dass die Leitzinsen in der Eurozone weiter deutlich steigen müssen.
2) Rekordhohe Erzeugerpreise
Die Erzeugerpreise in Europa sind – nicht zuletzt aufgrund der stark gestiegenen Energiepreise – um 43% gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Besonders stark steigen derzeit die Preise für Lebensmittel. Hohe Erzeugerpreise sind oftmals ein Vorbote für steigende Verbraucherpreise. Der Rückgang der Inflation wird – aufgrund des Basiseffektes – in Europa im nächsten Jahr geringer ausfallen als in den USA. Selbst die EZB erwartet derzeit, dass die Inflation in der Eurozone im Jahr 2023 im Durchschnitt noch 5,5% betragen wird.
3) Angebot und Nachfrage
Im Jahr 2023 ist für europäische Anleihen mit Gegenwind aufgrund eines nachteiligen Angebots und Nachfrageverhältnisses zu rechnen. Seit Sommer kauft die EZB als einst größter Nachfrager netto keine neuen Anleihen mehr. Die EZB hebt zudem die von den Geschäftsbanken zu zahlenden Zinsen langfristiger Refinanzierungsgeschäfte (LTROs) an. Die Geschäftsbanken im Euroraum werden daher vermutlich ihre längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte mit der EZB reduzieren. Die Bilanz der EZB wird sich mithin verkürzen. Abhängig davon, wie schnell die EZB ihre Anleihebestände reduziert, könnte der Angebotsüberhang an europäischen Staatsanleihen im Jahr 2023 bei deutlich über 500 Milliarden Euro liegen. Die europäischen Staaten werden also höhere Renditen bieten müssen, um willige Abnehmer für ihre Emissionen zu finden.
Folgerungen für unsere Anlagestrategie
Wir halten Kurs. Die Duration in unseren Anleiheportfolios bleibt weiter kurz. Die Zeit, die Laufzeiten in den Anleiheportfolios zu verlängern, um von Kurssteigerungen bei wieder fallenden Zinsen zu profitieren, ist aus unserer Sicht noch nicht gekommen, da die Zinsen weiter steigen werden. Angesichts des Zinsanstiegs seit Jahresanfang haben sich die Renditen von Unternehmens- und Staatsanleihen deutlich erhöht. Zudem sind die Zinsunterschiede von Investment Grade (IG)-Anleihen und Hochzinsanleihen relativ zu Staatsanleihen hoher Bonität auf attraktive Niveaus gestiegen. Aktuell erhält man für Euro IG-Anleihen 4,2% und für Euro-Hochzinsanleihen 7,9% (Stand: 01.11.2022). In der Vergangenheit hat es sich als vorteilhaft erwiesen, das Kreditrisiko erst nach Beginn einer Rezession schrittweise zu erhöhen. Dafür ist es noch zu früh. Wir bleiben daher noch in Lauerstellung. Wir werden das Kreditrisiko vermutlich erst Anfang 2023 erhöhen, da wir weiterhin von steigenden Zinsen und Risikoaufschlägen ausgehen.