Wie viel positive Überraschung steckt im neuen Börsenjahr 2023?

  • Robert Halver
  • Baader Bank

FRANKFURT – „Schwarze Schwäne können 2023 nicht ausgeschlossen werden. Aber wir Anleger sollten nicht den Fehler machen, die weißen zu ignorieren“, schreibt Robert Halver in seiner weihnachtlichen Kolumne. Er konstatiert eine geringe Erwartungshaltung bezüglich der Aktienmärkte, weshalb mehr positive Nachrichten gute Kurschancen generieren könnten.

Lesen Sie hier den Kommentar von Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse, Baader Bank:

„Die Börsenprognosen für das nächste Jahr sprühen alles andere als vor Optimismus. „Schwarz“ scheint die neue Modefarbe der Analysten zu sein. Wir leben zwar in keiner fröhlich bunten Welt und die uns umgebenden Krisen werden sich nicht schnell in Wohlgefallen auflösen. Aber mit Scheuklappen jeden hellen Lichtblick zu ignorieren oder das Schicksalsjahr 2022 eins zu eins auf 2023 zu übertragen, ist auch falsch. Ein großer Pluspunkt für die Börsen 2023 ist die geringe Erwartungshaltung der Anleger.

Die Vertreibung aus dem Zins-Paradies?

2022 haben Fed und EZB den Anlegern einen üblen Zins-Kater beschert. Immerhin, dieser Kater bzw. diese Katze ist jetzt aus dem Sack. Der Zins-Teufel ist groß und unverkennbar an die Börsen-Wand gemalt. Aber wie teuflisch wird es denn für Aktien?  

Die Inflation fällt, schmilzt sozusagen wie Schnee im Frühjahr. Frühjahr ist ein gutes Stichwort. Im 1. Quartal 2023 nähert sich die US-Notenbank ihrem Leitzinsgipfel. Denn mit jeder weiteren Zinsdosis wird der schuldenverliebte Amerikaner wirtschaftlich immer kranker.

Und die EZB? Aus dem Taubenschlag wird kein wirklicher Falkenhorst. Denn aus ihrer Rolle als Taube, sprich Kümmerer und Bewahrer Europas, kommt sie grundsätzlich nicht heraus. Ihre Strategie dazu lautet: Der Weg ist das Ziel. Mit dem Verweis auf verbesserte Inflationstrends erhält sie Beinfreiheit, ihre Absolution für Sünden-Staaten fortzusetzen. Den Preis dafür zahlen auch 2023 die Sparer, die von ihren nominal höheren Zinsen nach Inflation nichts übrigbehalten.  

Allerdings, auf den ersten Blick scheint die Bank of Japan (BoJ) nicht mehr der letzte Mohikaner unter den Zentralbanken zu sein, der an üppigster Geldpolitik festhält. Zukünftig sollen die Renditen 10-jähriger Staatsanleihen nicht mehr nur wie bisher zwischen minus 0,25 Prozent und 0,25 Prozent, sondern in der Spannbreite von minus 0,5 Prozent bis 0,5 Prozent schwanken.

Jetzt scheint der Markt Angst zu haben, dass dies der Beginn einer leidenschaftlichen Straffung der japanischen Zins- und Liquiditätszügel ist. Käme es so, wären davon nicht nur die Finanzmärkte in Japan (Urbi), sondern auch der Weltkreis (Orbi) negativ betroffen. Denn das Land der aufgehenden Sonne war unzählige Jahre der Kredittempel der Welt. Über sogenannte Yen-Carry-Trades wurden ganze Meere an Liquidität kreditzins- und währungsbillig in Japan aufgenommen und in höher rentierliche ausländische Anleihen und Aktien angelegt.

Und tatsächlich, wertete der japanische Yen zukünftig zinserhöhungsbedingt deutlich auf, würden nicht nur japanische Großanleger ihre gewaltigen Auslandsinvestitionen nach Hause holen, um ihre Auslandsgewinne zu sichern bzw. -verluste zu vermeiden. Ebenso wären internationale Investoren wieselflink dabei, ihre zu teuer werdenden Gegenfinanzierungen glattzustellen, indem sie die damit getätigten weltweiten Investments in Anleihen, Aktien und Immobilien abwerfen wie Sandsäcke aus einem sinkenden Heißluftballon.

Das Leiden für Technologietitel könnte sich über steigende Kapitalkosten noch verschlimmern, was zu einer weiter sinkenden Nachfrage nach Hardware, Software und Halbleitern führte.

Wird aus dem japanischen Regengebiet wieder die Wüste?

Aber wie heftig wird die Austrocknung des japanischen Finanz-Eldorados? Ohne Frage lässt sich die hohe japanische Inflation selbst bei erheblichem Genuss von Sake nicht mehr leugnen. Eine gewisse geldpolitische Straffung, die auch über einen stabileren Yen die importierte Rohstoff-Inflation mildert, ist durchaus gerechtfertigt.

Allerdings ist eine konsequente Kehrtwende nicht zu erwarten. Anleger, hört die Signale: Die BoJ selbst spricht davon, dass sich die Inflation 2023 verlangsamen werde. Und von einer Abschaffung der Zinskurvenkontrolle kann keine Rede sein. Die BoJ hat beschlossen, die Anleihekäufe im I. Quartal 2023 sogar um gut 20 Prozent zu erhöhen und will vorerst am Leitzins von minus 0,1 Prozent festhalten.

Überhaupt, der Zug für die BoJ, eine wirklich stabilitätspolitische Geldpolitik zu betreiben, ist abgefahren. Japan hat längst den point of no return erreicht. Das Land ist derart verschuldet, dass südeuropäische Staatshaushalte im Vergleich Horte der Stabilität sind. Massive japanische Zinserhöhungen und Liquiditätsabzüge wären Harakiri für die Schuldentragfähigkeit. Die Tatsache, dass mehr als die Hälfte aller japanischen Staatspapiere im Besitz der BoJ ist, spricht Bände.

Wenn so insgesamt die Vertreibung aus dem (Zins-)Paradies aussieht, hätte Adam nicht nur in den Apfel gebissen, er hätte alle Äpfel aus dem Obstkorb verzehrt.

Wie warm müssen wir uns 2023 konjunkturell anziehen?

Ganz sicher wird es kein Wirtschaftswunder-Jahr. Aber der dickste Rezessions-Pullover im Schrank ist auch nicht nötig. Denn ifo-Geschäftserwartungen lügen nicht. Nach tiefem Fall steigt die Zuversicht von Unternehmen mit Schwerpunkt Industrie und Export wieder erkennbar an. Sie freuen sich, dass exogene Schocks wie knappe Rohstoffe und Lieferengpässe an Brisanz verlieren. So können sie den hohen Auftragsbestand immer besser abarbeiten und – ganz wichtig – endlich Rechnungen schreiben. Und was wäre erst, wenn das Weltwirtschafts-relevante China seine Covid-Türen so konsequent und nachhaltig öffnet wie ein Kind seinen Adventskalender kurz vor Weihnachten? Das Vertrauen in chinesische bzw. asiatische Aktien würde sich revitalisieren. Vor allem exportsensitive und konjunkturzyklische Aktien aus Deutschland wären entzückt.  

Und wenn die Weltwirtschaft doch in ein tieferes globales Loch fällt, weil beispielsweise in China die Corona-Infektionen explodieren? Dann würden die Aktienmärkte ihre Lebensversicherung in Anspruch nehmen. Die Rohstoffpreise würden fallen und die Inflation wäre vorbei. Und würde die US-Konjunktur über Gebühr nachgeben, wäre dies der geldpolitische Game Changer: Die von Fed-Präsident Powell immer wieder zitierte Datenabhängigkeit würde aus der Notwendigkeit, die monetären Bedingungen restriktiv zu halten, zügig die Notwendigkeit machen, Liquidität wieder zinsgünstig bereitzustellen, um eine knallharte Wirtschaftslandung zu verhindern.  

Zunächst bleibt wohl das Vertrauen in Aktien verhalten. Aber weil die Erwartungshaltung gering ist, erwachsen bei immer mehr positiven Nachrichten auch immer mehr gute Kurschancen. Schwarze Schwäne können 2023 zwar nicht ausgeschlossen werden. Aber wir Anleger sollten nicht den Fehler machen, die weißen zu ignorieren.“

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