Wie viel Angst müssen Anleger heutzutage noch vor Inflation haben?

FRANKFURT – Weshalb die Notenbanken nicht stärker gegen die Inflation losgehen, fragt sich Robert Halver in seiner aktuellen Kolumne. Sogleich findet er daran aber eine gute Seite: „Inflation, die nicht bekämpft wird, ist kein Feind von Aktien mehr wie früher, sondern ein Freund, vielleicht sogar der beste.“


Ab hier folgt der Kommentar von Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse, Baader Bank:

„Wenn früher die Inflation anstieg, wurden Aktien durch stabilitätsharte Zins-Haken der Notenbanken regelmäßig auf die Bretter gelegt. Und müsste heute ein Aktien-K.o. nicht besonders niederschmetternd sein, wenn die Inflation als Springteufel zurückkommt und dann die Hausse aller Liquiditätshaussen von Fed und EZB endet? Doch welche Brisanz hat dieses klassische Szenario aktuell noch, wenn die alten Stabilitätsregeln für die neuen Staatsgläubigen keine schlagenden Argumente mehr darstellen?

Corona geht und die Inflation kommt

Ohne Frage, nachdem Bürger lange in pandemischer Askese verharren mussten, wird es post-coronal zu einem dramatischen Konsumrausch kommen. Da gleichzeitig die Rohstoffpreise mit Schmackes zulegen, sind insgesamt happige Preissteigerungen unvermeidlich: Zuletzt betrug die Inflation in Amerika 4,2 Prozent und in Deutschland wird sie im Jahresverlauf über drei steigen.

Und was ist mit den nachhaltigen Inflationstreibern? Die Überalterung im Westen scheint zu Verknappungen am Arbeitsmarkt und Kostensteigerungen im Gesundheitswesen zu führen. Daneben sind die asiatischen Schwellenländer keine Billigheimer mehr. Ohnehin könnte wachsender Protektionismus für vermehrte Produktion in den teuren Industrienationen führen. Zudem sind für viele heftige Steuererhöhungen nach der Bundestagswahl ausgemachte Sache.

Die Inflation scheint gekommen zu sein, um lange zu bleiben.

Spielen also Fed, EZB und Co. mit dem Inflations-Feuer, wenn sie nicht nur mit feiner diplomatischer Note, sondern fast Marktschreier-ähnlich von nur vorübergehender Preisbeschleunigung sprechen?

Tatsächlich werden sie nicht müde, auf technologische Deflation zu verweisen. Roboter ersetzen doch immer mehr arbeitende Menschen. Und sie wollen keinen Urlaub, keine Lohnerhöhung, werden nie krank, arbeiten 24/7 und streiken tun sie auch nicht. Wo soll da wie früher die galoppierende Lohn-Preis-Spirale entstehen?

Und die Rohstoffpreise? Förderkürzungen der Opec verbreiten keine schlimmen Inflationsängste mehr wie in den 70er-Jahren. Ihnen wird durch Förderausweitungen bei Fracking-Öl entgegengewirkt. Ohne Zweifel sind die Rohstoffpreise im Vergleich zum Vorjahr deutlich angestiegen. Aber wenn die Weltwirtschaft erst einmal genügend Rohstoffe gebunkert hat, werden sich der Preisauftrieb und ebenso die Inflationserwartungen ab Herbst auch wieder beruhigen.

Dafür spricht auch der Konsumhunger, der irgendwann auch wieder gesättigt ist. So wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, scheint also auch das zwischenzeitliche Strohfeuer der Inflation keinen Einsatz der geldpolitischen Feuerwehr nötig zu machen.

Die Geldpolitik denkt, aber die Politik lenkt

Offensichtlich erzeugt das I-Wort bei Notenbanken also kein Igitt-Gefühl mehr. Dennoch muss man sich fragen, warum die EZB ihren traditionellen Stabilitätsauftrag, Inflation schon beim kleinsten Auftauchen präventiv zu bekämpfen, aufgibt und bei ihrem Erscheinen nicht reagiert.

Die Antwort ist ganz einfach: Sie gibt dem Druck der Politik nach. Auf dem Papier ist sie zwar unabhängig. Aber wer ernennt denn die Notenbanker? Die Politik. Warum sollten ausgabefreudige Regierungen die Geldquelle mit Stabilitätsaposteln besetzen, die den Wasserhahn lieber nach rechts als nach links drehen? Haben sich meine beiden Katzen jemals für Futterrationierung ausgesprochen?

Die Politiker haben Angst, dass das Konjunkturfeuer nur ein Scheunenbrand, nicht selbsttragend ist. Daher will man das Aufputschmittel des billigen und vielen Geldes möglichst lange verabreichen. Dagegen wird harte Stabilitätspolitik als Risiko für den Euro-Frieden betrachtet, das im Extremfall zu einer finalen Eurosklerose führt. Die EZB soll lieber als Friedensengel auftreten, der großzügige Geldgeschenke an den Euro-Süden finanziert.

Ohnehin muss das europäische Haus kernsaniert werden. Der Keller ist feucht, der Putz bröckelt von den Wänden und das Dach ist undicht. Europas miese Standortqualitäten müssen beseitigt werden. Und Digitalisierung und grüner Umbau kosten viel Geld, das kein EU-Land hat. Überhaupt, da Wettbewerbsfähigkeit auch in Amerika von der Fed finanziert wird, verlangen europäische Politiker geldpolitische Waffengleichheit.

Sicher werden Steuererhöhungen im Bundestagswahlkampf eine große, vor allem ideologische Rolle spielen. Aber in der anschließenden politischen Realität wird man dann doch lieber auf die viel kostengünstigere Alimentierung der EZB zurückgreifen. Wer will schon mit Steuererhöhungen die Konjunktur gefährden und Unmut herbeiführen?

Sind wir ehrlich: Die EZB ist wie die Fed zum Retter auf Lebenszeit mutiert: „Patronin voller Güte, uns alle Zeit behüte.“ Gemäß der Modernen Geldtheorie ist sie die Erfüllungsgehilfin einer neuen schuldenfinanzierten Staatsgläubigkeit, deren Alibi „Versöhnen statt Spalten“ ist. Ohne Schuldensorgen und Zinskosten lassen Politiker für ihre Schutzbefohlenen Brei vom Himmel regnen. Warum jemals wieder Magerkost verabreichen? Ein Politiker ist auch nur ein Homo Oeconomicus. Die nächste Wahl kommt bestimmt.

Früher strenge Inflationsbekämpfung, heute antiautoritäre Erziehung

Wer will sich denn bei all diesen bedeutenden Aufgaben nur noch um altmodische Stabilität kümmern? Es gibt doch transzendente, höhere, ja edlere Ziele. Übrigens hat das Bundesverfassungsgericht die Geldspritzen der EZB endgültig gutgeheißen.

Apropos Inflation, man muss schon ausgesprochen gutgläubig sein, wenn man den offiziellen Inflationsraten traut. Der zur Berechnung herangezogene Warenkorb passt zur Preisrealität wie Mettbrötchen auf einer Veganer-Tagung. Güter und Dienstleistungen, die besonders häufig gekauft werden – u.a. Strom, Kalt- und Warmmiete, Versicherungen, Lebensmittel – sind gegenüber deflationierenden Elektroartikel nicht entsprechend vertreten. Somit ist die inoffizielle, aber tatsächliche Inflation höher. Und so sind auch die realen Kreditzinsen noch niedriger, ist die künstliche Entschuldung noch attraktiver. Darauf wird jeder Finanzminister ebenso wenig verzichten wie ein Hund auf einen Knochen.

Die Zinsmärkte sind immer weniger inflationssensibel

Normalerweise reagieren die Zinsmärkte auf Inflation wie der Pawlow’sche Hund auf das Ertönen des Glockentons. Was der Speichelfluss beim Hund, sind die Inflationsaufschläge bei Anleihen. Doch diese klassische Konditionierung, diese alten Verlaufsmuster lässt die geldpolitische Allmacht auf Geheiß der neuen Politik nicht mehr zu. Anders formuliert: Der Hund sabbert nicht mehr.

Zinssparen bleibt damit so unattraktiv wie Küssen mit Mundgeruch. Selbst wenn der Nominalzins steigt, wird die Inflation jede echte Rendite zunichtemachen.

Immerhin bleibt so der Anlagenotstand weiter als Brot und Butter-Geschäft für Aktien bestehen. Denn Inflation, die nicht bekämpft wird, ist kein Feind von Aktien mehr wie früher, sondern ein Freund, vielleicht sogar der beste.“

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