Sell in May?
FRANKFURT — Jahreszeiten sind nicht nur bei Rohstoffen ein wichtiger Preistreiber. Auch am Aktienmarkt macht mehr Rendite, wer zyklische Muster ausnutzt. Eine umfassende Studie zeigt: Die saisonalen Rendite-Unterschiede sind größer als viele denken. „Sell in May“ ist dabei nur eine von mehreren bewährten Strategien.
Sell in May and go away“ – dieses Börsenbonmot kennt jeder Anleger. Aber es ist weit mehr als nur ein Bonmot. Wer Ende Oktober in deutsche Aktien einsteigt und Anfang Mai wieder verkauft, macht ziemlich regelmäßig einen guten Schnitt. Der Trick funktioniert nicht nur in Deutschland. Das von Kennern „Halloween-Effekt“ genannte saisonale Muster wird in den USA bereits seit den 40er-Jahren beobachtet. Der „Halloween-Effekt“ beschreibt dabei die typische Tendenz der Aktienmärkte, im Sommer deutlich weniger nach oben zu streben als im Winterhalbjahr.
In mindestens elf Ländern tritt der Halloween-Effekt signifikant oft ein. Das verdeutlicht eine 2017 publizierte Studie des auf Zyklen spezialisierten Analysehauses Seasonax. Die Rendite-Unterschiede sind gewaltig: „Im Mittel der untersuchten Länder – von Kanada und Großbritannien über China und Indien bis Deutschland und die USA – betrug der jährliche Kursgewinn im Sommer lediglich 0,04 Prozent. Im Winterhalbjahr lag er bei 8,37 Prozent“, erklärt Seasonax-Gründer Dimitri Speck. Bei einer Gegenüberstellung der Sommer- und Winterergebnisse der elf Länder zeigt sich, dass in den sechs Ländern Kanada, Frankreich, Deutschland, Japan, Taiwan und Großbritannien ein Engagement allein im Winterhalbjahr ertragreicher war als im Gesamtjahr. Die Sommersaison umfasste die Monate Mai bis Oktober, die Winterperiode November bis April.
Der Halloween-Effekt ließ sich demnach rückblickend – bis auf Hongkong und Indien – von Anlegern ertragreich nutzen. „Die Strategie ist denkbar einfach“, sagt Saisonexperte Speck. In der schwachen Sommerzeit wird der Investitionsgrad über Verkäufe oder Absicherungsgeschäfte reduziert. Dadurch frei werdende Mittel könnten Investoren am Geld- oder Anleihemarkt einsetzen. So könnten sie mit wenig Risiko auch in der schwachen Jahreszeit noch etwas Geld verdienen.
Der DAX mag den Winter
Den Halloween-Effekt gibt es der Seasonax-Studie zufolge sehr ausgeprägt in Deutschland. In der Einzelbetrachtung über einen Untersuchungszeitraum von 38 Jahren zeigt sich, dass der DAX in der Sommersaison im Durchschnitt an der Nulllinie kratzte, während er in den Wintermonaten deutlich zulegte.
Hintergrund solcher Auffälligkeiten ist, dass jede Branche eigene, auf stabilen Einflussfaktoren basierende saisonale Trends aufweisen, von denen letztlich Kapitalanleger profitieren können. „Die bekanntesten saisonalen Einflüsse sind Ernteperioden, das Wetter, die Stimmung der Investoren zu bestimmten Jahreszeiten, der Zeitpunkt von Zinsrückzahlungen, Deadlines zur Steuerbilanzierung oder auch regelmäßig Finanzreports“, führt Speck aus.
Zusammengefasst lassen sich Saisonalitäten als regelmäßige, vorhersehbare, sich jedes Jahr wiederholende Muster beschreiben. Um solche saisonalen Muster aber auch dauerhaft zu nutzen, müssen zu jedem Zeitpunkt genügend saisonal profitable Aktien identifiziert werden. Denn nicht nur Aktienindizes, sondern auch einzelne Aktien weisen saisonale Muster auf, die sich oft zu verschiedenen Zeitpunkten im Kalenderjahr manifestieren, wie Speck beschreibt.
Um das ganze Jahr über investieren zu können, sei es also notwendig, umfassende historische Daten jeder einzelnen Aktie zu sammeln und Algorithmen anzuwenden, die saisonale Muster präzise identifizieren und evaluieren können. Das setze ein entsprechend breites und liquides Anlageuniversum voraus: „Mindestens 200 Titel sollten als Basis für eine Saisonalitätsstrategie vorhanden sein“, räumt Speck ein.
Microsoft überrascht Anleger saisonal
Wie aber lassen sich Aktien ausfindig machen, die saisonal unterschiedliche Kursverläufe aufweisen? „Für Außenstehende sind die Gründe meist nicht auf Anhieb erkennbar“, räumt Speck ein. „Sie können mit Auftragsgepflogenheiten, Messen, Modellzyklen, Hauptversammlungen, Unternehmensberichten oder auch der Geschäftsplanung zu tun haben.“ Bei Brauereien etwa sei das leicht nachvollziehbar, wenn etwa nach den Sommermonaten aufgrund eines erhöhten Getränkekonsums bessere Geschäftszahlen veröffentlicht werden als nach der Wintersaison. Aber bei Technologiewerten?
Wieso steigt beispielsweise die Microsoft-Aktie regelmäßig im Oktober überproportional stark an? Eine Detailanalyse hilft: Bei Microsoft hätten in den vergangenen Jahren zumeist die Quartalszahlen überrascht, die im Oktober publiziert wurden. „Es gibt durchaus auch bei Technologieaktien branchenspezifische oder firmeninterne Gründe für einen saisonalen Geschäftsverlauf“, betont Speck, der sich über „Earning Surprises“ auf den Aktienkurs auswirke.
Der Chart wurde aus dem Durchschnitt der Erträge der vergangenen 20 Jahre errechnet. Daraus lässt sich erkennen, dass die Aktie typischerweise von Jahresbeginn bis Anfang März fällt, ehe sie danach bis Anfang Oktober moderat zulegt. Dann folgt eine kurze, saisonal sehr interessante Phase, die vom 7. Oktober bis 6. November dauert. In den vergangenen 20 Jahren sei der Kurs während dieser Phase in 16 von 20 Fällen gestiegen, so die Seasonax-Berechnungen – mit einer annualisierten Rendite von 150,21 Prozent. „Das ist weit mehr als in der übrigen Zeit des Jahres, in der im Mittel sogar leichte Verluste in Höhe von annualisiert 3,52 Prozent auftraten“, erklärt Speck. Zudem sei der Kursgewinn der kurzen saisonal positiven Phase besser gewesen als der des Gesamtjahres.
Saisonalitäten systematisch nutzen
Die genannten Beispiele sollen die Vielfalt an saisonalen Mustern verdeutlichen, von denen etliche weitgehend unbekannt sind. Investoren können solche saisonalen Muster zur Investitionsquoten-Steuerung und zum Timing ebenso nutzen wie bei der Branchen- oder Einzeltitelauswahl. Einerseits mit dem im Juli 2018 aufgelegten Seasonax Market Neutral, der als Absolute-Return-Fonds nach saisonalen und zyklischen Mustern investiert und eine marktneutrale Rendite als Alternative zu klassischen Anleiheinvestments anstrebt.
Selbstentscheider wiederum können auf die Seasonax-Recherchen über eine spezielle App zugreifen, die über die Portale von Bloomberg Professional und Thomson Reuters abonniert werden kann. Mit dieser App können saison-affine Anleger ihre eigene Strategie entwickeln, die auf saisonalen und zyklischen Mustern basiert. Zu den Analysemöglichkeiten gehören etwa auch Event-Studies. „Damit können Anleger in kurzer Zeit beispielsweise den typischen Aktienkursverlauf bei der Endfälligkeit von Futures, bei Wirtschaftszahlen oder bei Notenbankentscheidungen untersuchen“, verweist Speck.
Lukrative Intraday-Muster
Auch im täglichen Börsenhandel hat Speck Regelmäßigkeiten festgestellt. So könne ein durchschnittlicher Intraday-Verlauf helfen, den idealen Kaufzeitpunkt einer Aktie zu bestimmen – selbst wenn der Anleger kein kurzfristiger Trader sei, sondern eine langfristige Strategie verfolge.
„Die Frage, ob ein bestimmter Titel besser vor oder nach der Mittagspause gekauft werden sollte, mag trivial erscheinen und letztlich auch nur geringe Kursvorteile bringen“, beschreibt Speck. „Aber gerade im professionellen Anlagegeschäft ist jeder Zusatzgewinn zu begrüßen und wirkt sich auf längere Sicht unter dem Strich sehr positiv aus.“
Hinweis: Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in TiAM – Trends im Asset Management 01/2019
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