„Noch gibt es einen Ausweg aus der Schuldenfalle“

- Dr. Hans-Jörg Naumer
- Leiter Capital Markets & Thematic Research
- Allianz Global Investors
MÜNCHEN – Die Schuldenuhr dreht sich immer schneller. Ende 2019 stand Deutschland noch mit 1,9 Billionen Euro in der Kreide. Jetzt sind es fast 2,3 Billionen. Können wir das jemals zurückzahlen? Dr. Hans-Jörg Naumer von Allianz GI ist zuversichtlich. Sogar ohne Steuererhöhungen dürfte der Schuldenabbau gelingen.
„Wer soll das bezahlen? Das ist eine Frage, die sich in Anbetracht der gegen die Corona-Krise geschnürten Fiskalpakete derzeit viele stellen. Zu Recht. Die Maßnahmenpakete zur Stabilisierung der Wirtschaft sind enorm. Die Ausgaben entsprechend auch. Gleichzeitig sinken die Steuereinnahmen.
Waren die Schuldenberge schon vor der Krise beachtlich, sind sie zwischenzeitlich beträchtlich angewachsen. Was wiederum bei den Lösungsmöglichkeiten nicht übersehen werden sollte, ist die entlastende Wirkung extrem niedriger, ja sogar negativer Anleiherenditen. Bei deutschen Staatsanleihen gibt es über fast alle Laufzeiten hinweg keine positive Rendite mehr.
Wie komfortabel Niedrig- beziehungsweise Negativzinsen sein können, zeigt sich bei den impliziten Zinsen, welche die Staaten auf ihre Schulden zahlen müssen. Vergleicht man den Durchschnitt der impliziten Schulden, die seit dem Ausbruch der Finanzkrise bis an den aktuellen Rand (2008 bis 2020) anfielen, mit dem Durchschnitt des Zehnjahreszeitraums davor (1997 bis 2007), so zeigt sich für eine Reihe von Industriestaaten ein mehr als halbierter Zins. So auch für Deutschland.
Die Schuldendynamik
Kann dieses Renditeniveau dazu beitragen, dass die Staaten aus ihren Schulden über die Zeit herauswachsen? Zentral ist das Verhältnis vom realen Zins, mit dem die öffentlichen Schulden refinanziert werden, zur realen volkswirtschaftlichen Wachstumsrate. Wird ein ausgeglichener Primärhaushalt unterstellt, ist für die Schuldendynamik entscheidend, dass der Realzins langfristig unterhalb der realen Wachstumsrate liegt. Nur dann kommt es zu einem Abbau der Staatsschulden über die Zeit. Die öffentliche Hand wächst gleichsam aus ihren Schulden heraus, das heißt, die Schuldenquote sinkt. Ist dies nicht der Fall, müssen Primärüberschüsse erzielt werden. Um den Schuldenabbau voranzubringen, müssen diese umso größer sein, je stärker der Realzins über dem Wachstum liegt.
Ausgangspunkt sind für den aktuellen Zeitrand der Jahre 2020 und 2021 die Schätzungen für die Schuldenquoten der Europäischen Kommission (Stand Mai 2020; also inklusive der im Kontext der Pandemie bereits beschlossenen fiskalisch wirksamen Maßnahmen).
Für die weitere Betrachtung der einzelnen Varianten wurden Annahmen bezüglich der Inflation und des Primärhaushalts getroffen. Als Annahme für das reale Wachstum wurden die langfristigen Schätzungen der OECD verwendet, die bis zum Jahr 2060 reichen. Die Modellierung der impliziten Zinssätze, die auf die jeweiligen Haushalte entfallen, setzt an den aktuellen Schätzungen für das Jahr 2021 der Europäischen Kommission an.
Einfluss der Zinsstrukturkurve
Bei den Annahmen zu den zukünftigen Veränderungen des impliziten Zinssatzes auf die Staatsverschuldung wurde modellhaft berücksichtigt, dass dieser mit einem nachlaufenden Effekt auf Veränderungen der Zinsstrukturkurve reagiert. Das heißt: Renditeveränderungen an den Kapitalmärkten kommen nur zeitverzögert mittels Refinanzierung auslaufender Staatsanleihen bei den Finanzierungskosten für die öffentlichen Schulden an. Beim impliziten Zins wurde ein gleitender Rückgang bis zu einem Tief im Jahr 2030 pro Jahr unterstellt, der dem durchschnittlichen Rückgang in den Jahren 2008 bis 2020 entspricht. Dieser Rückgang lag leicht über 20 Basispunkten. Der ab 2031 dann gemäß Modell einsetzende Anstieg des impliziten Zinses vollzieht sich bis zum Jahr 2060.
Als Annäherung für ein „normales“ Zinsumfeld wurde die Ultimate Forward Rate der European Insurance and Occupational Pensions Authority gewählt, wie sie gemäß der Regularien für Solvency II zum Einsatz kommt. Modellhaft wurde unterstellt, dass die impliziten Zinsen ab 2030 um 20 Basispunkte pro Jahr wieder ansteigen und dann eine Kappungsgrenze bei diesem langfristigen Zins gemäß EIOPA haben.
Führen also die Negativ-/Niedrigzinsen zu einem Abbau der Schuldenberge? Dazu folgende Szenarien:
Szenario 1: Ausgeglichener Primärhaushalt
Die entlastende Wirkung weiter sinkender impliziter Zinsen wird für Deutschland sehr deutlich sichtbar, wie das Basisszenario, bei dem ein ausgeglichener Primärhaushalt unterstellt wird, zeigt. Bei einer unterstellten Inflationsrate von drei Prozent sinkt die Schuldenquote kontinuierlich. Bei durchschnittlichen zwei Prozent sinkt die Schuldenquote bis zum Jahr 2044 auf leicht unter 48 Prozent des BIP und steigt dann langsam wieder an. Bei einer Inflationsrate von durchschnittlich ein Prozent wird das Maastricht-Kriterium von 60 Prozent des BIP im Jahr 2036 unterschritten. Danach sinkt die Schuldenquote bis 2041 leicht weiter, um erst dann wieder anzusteigen.
Szenario 2: Positiver Primärhaushalt
Ein deutlicher Rückgang kann mit einem dauerhaften Primärüberschuss von ein Prozent pro Jahr erzielt werden. Im Fall Deutschlands kommt es zu kontinuierlichen Rückgängen der Schuldenquote für jedes der drei Inflationsszenarien. Bei drei Prozent Inflation sind die Schulden bis 2060 faktisch abgebaut – sofern im weiteren Verlauf nicht zusätzliche Schulden aufgenommen werden müssen. Bei einer nur einprozentigen Inflationsrate sinkt die Schuldenquote bis zum Ende des Betrachtungszeitraums auf etwa 34 Prozent.
Schuldenabbau per Niedrigzinsen
Entscheidend beim Schuldenabbau ist die entlastende Wirkung niedriger impliziter Zinsen, mit denen die öffentlichen Haushalte belastet werden.
Zur Verdeutlichung noch einmal folgende Betrachtung: Läge der implizite Zins im Fall der Bundesrepublik statt bei 1,36 Prozent bei 2,44 Prozent (was dem Durchschnitt des impliziten Zinses der Jahre 2008 bis 2020 entspricht), verliefe der Rückgang der Schuldenquote schon merklich ungünstiger. Ohne weitere Maßnahmen würde bei einer Inflation von ein Prozent eine Schuldenquote von 100 Prozent des BIP im Jahr 2053 erreicht. Läge der implizite Zins gar bei – unwahrscheinlichen – fünf Prozent (was dem impliziten Zins der Jahre 1997 bis 2007 entspräche), würden die Schuldenquoten unabhängig von der Inflationsentwicklung kontinuierlich ansteigen.
Ein Primärüberschuss von ein Prozent würde nur bei einer Inflationsrate von drei Prozent zu einem dauerhaften Rückgang der Schuldenquote führen. Auch eine mittlere Variante von 3,75 Prozent würde den Schuldenabbau merklich hemmen. In diesem Fall gelänge ein anhaltender Rückgang der Schuldenquote nur in dem unwahrscheinlichen Fall einer Inflationsrate, die dauerhaft bei drei Prozent pro Jahr liegt, und das von 2021 an.
Fazit
Eine Entschuldung gelingt umso besser, je höher die Inflation und je niedriger die Nominalrenditen – beziehungsweise je länger die Niedrig-/Negativzinsphase anhält. Am Ende bezahlen die Gläubiger, das heißt die Zeichner von Staatsanleihen, für einen Teil des Schuldenabbaus selbst – indem sie zu Realzinsen anlegen, die unterhalb des realen Wachstums liegen.
Eine wesentliche Erkenntnis daraus ist, dass mit Blick auf Deutschland zusätzliche Steuern nicht notwendig sind, auch nicht, wenn das Anfang Juni beschlossene Konjunkturpaket von 130 Milliarden Euro mit berücksichtigt wird. Deutschland wird auch so den Abstieg vom Schuldengipfel schaffen – hauptsächlich dank extrem niedriger/negativer Zinsen und Dank eines günstigen Ausgangspunktes bei der Schuldenquote.“
Dr. Hans-Jörg Naumer
Der promovierte Volkswirt leitet seit dem Jahr 2000 das Capital Markets & Thematic Research bei Allianz Global Investors. Kapitalanlage, Vermögensaufbau und die Analyse langfristig wirkender Trends bilden den Dreiklang seiner Analysen. Dabei arbeitet er bevorzugt mit den Erkenntnissen der Verhaltensökonomie.
Hinweis: Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in TiAM – Trends im Asset Management 04/2020
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