„Ich bin überzeugt davon, dass der Euro bestehen wird“

- Dr. Theo Waigel
FRANKFURT — Dr. Theo Waigel im Gespräch mit Hedgework über die Krisen von damals, die Probleme von heute und warum bei aller Kritik an Mario Draghi dieser in Schutz genommen werden müsse.
Hedgework: Sehr geehrter Herr Dr. Waigel, Sie sind 1998 aus der Regierung ausgeschieden. Zuvor waren Sie über neun Jahre Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland und haben in dieser Zeit maßgebliche politische Schritte mitverantwortet und getragen. Mit einem Abstand von 20 Jahren stellt sich nun die Frage: Waren die politischen Probleme und Herausforderungen in den Achtziger- und Neunzigerjahren größer oder anders, als die Probleme, die wir heute im Jahr 2018 sehen?
Dr. Theo Waigel: Ich würde sagen, dass die Probleme, mit denen wir damals zu kämpfen hatten, anders waren als die Probleme im Jahr 2018, aber sicher nicht kleiner. Meiner Meinung nach waren die Achtziger- und Neunzigerjahre, vor allem aber die Neunzigerjahre, das bewegendste und positivste Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts. Was sich dort auf der politischen Ebene vollzogen hat, würde in der Theologie als Wunder bezeichnet werden. Der Religionsphilosoph Eugen Biser hat gesagt: „Das ist wie das Eintreten einer transzendenten Macht in das Weltgeschehen.“
Hedgework: Haben Sie einige Beispiele?
Dr. Waigel: Dass es in der damaligen Zeit tatsächlich gelungen ist, nicht nur eine friedliche deutsche Wiedervereinigung herbeizuführen, sondern zudem noch den Abzug aller russischen Truppen und Waffen aus Deutschland – das war wirklich eine erstaunliche Entwicklung. Man darf auch nicht vergessen, dass sich dann im Grunde noch die Wiedervereinigung Europas vollzogen hat, aus den Satelliten-Staaten der Sowjetunion freie Demokratien geworden sind, und Europa zur friedlichsten und demokratischsten Zone der Welt geworden ist. Diese Errungenschaften sind untrennbar mit dem Namen von Helmut Kohl verbunden und leider hat man heutzutage den Blick dafür verloren, wie unglaublich diese Ereignisse eigentlich waren. Es war für mich eine große Ehre, neun Jahre lang dabei sein zu dürfen und dies alles aus nächster Nähe erleben zu können. Das war mir ja nicht in die Wiege gelegt und als ich am 21. April 1989 Finanzminister wurde, hätte ich mir das nie vorstellen können.
Hedgework: Und die Probleme von heute?
Dr. Waigel: Wenn heute über Währungskrisen oder Probleme in Europa gesprochen wird, dann möchte ich das nicht klein reden, aber diese Krisen sind mit Sicherheit nicht größer als die Probleme, die wir in den Achtziger- und Neunzigerjahren hatten: Die Eurosklerose, die in den Achtzigerjahren stattgefunden hat, und die erst durch Helmut Kohl und François Mitterand überwunden werden konnte. Oder beispielsweise die Währungsturbulenzen – stellen Sie sich das mal vor: von 1979 bis in die Neunzigerjahre hinein musste das Europäische Währungssystem (EWS) über 20 Auf- und Abwertungen hinnehmen, die jedes Mal mit riesigen Problemen in den Ländern einhergingen. Für den deutschen Agrarmarkt und die Landwirtschaft war das jedes Mal eine Katastrophe.
Nicht zuletzt gab es 1992/1993 starke Turbulenzen rund um den Franc und das Pfund, und während wir den Franc damals retten konnten, musste das Pfund aus dem EWS ausscheiden. Auch damals schon mussten die Notenbanken mit über 300 Milliarden Dollar intervenieren, um die europäischen Währungen zu stützen. Daher habe ich wenig Verständnis dafür, wenn jemand behauptet, dass die Probleme von heute unüberwindbar seien oder die größten, die es je gegeben habe.
Hedgework: Sie sprechen den Schwarzen Mittwoch an – den Tag, an dem George Soros die Bank of England geknackt hat und England aus dem Europäischen Währungssystem austreten musste.
Dr. Waigel: Genau, das war für die Briten eine sehr bittere Erfahrung und hat zu einem Trauma geführt. Dies war unter anderem ein Grund dafür, dass Großbritannien sich von Europa distanziert hat und nicht Mitglied der europäischen Währungsunion geworden ist. Für Margaret Thatcher und noch viele andere war es ein Desaster, dass sie mit einem zu hohen Kurs in das Europäische Währungssystem eingestiegen waren und es nun verlassen mussten.
Hedgework: Würden Sie etwas anders machen, wenn Sie aus heutiger Sicht zurückblicken auf die Entscheidungen der Achtziger- und Neunzigerjahre?
Dr. Waigel: Ich denke, aus deutscher Sicht haben wir das Wesentliche richtiggemacht. Selbstverständlich hätte ich mir gewünscht, dass einige Partner sich an ihre Versprechen gehalten hätten. Beispielsweise hat der damalige Schatzminister und spätere Staatspräsident Ciampi zugestimmt, dass Italien zu den Verträgen steht und Reformen in Angriff genommen werden müssen und der Haushalt konsolidiert werden muss. Als er dann vor ein paar Jahren im hohen Alter von über 90 Jahren starb, hat er bitter beklagt, dass Italien sich nicht an das gehalten hat, was es damals zugesagt hatte. Allerdings war es auch ein großer Fehler, dass ausgerechnet Deutschland 2003 den Stabilitätspakt gebrochen und dann gemeinsam mit Frankreich und Italien geändert hat. Ich würde daher eher von Erziehungsfehlern sprechen, die stattgefunden haben, weniger von Geburtsfehlern.
Hedgework: Kommen wir zur Gestaltung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie Karl Otto Pöhl damals dafür plädiert hat, auf keinen Fall DDR-Mark und D-Mark im Verhältnis 1:1 umzutauschen. Ein Gespräch mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl hat ihn dann offenbar umgestimmt. Er sagte danach in etwa vor laufender Kamera: „So etwas darf man nicht mit dem kurzfristigen Bilanzlineal messen.“ 2004 jedoch hat er dann der Welt am Sonntag ein Interview gegeben und die Schlagzeile damals lautete: „Der Kurs beim Umtausch war verhängnisvoll.“ Was ist nun richtig?
Dr. Waigel: Hier muss ich kurz einhaken, denn der Kurs damals war ja gar nicht 1:1, sondern 1:1,81. Mit dem Verhältnis 1:1 haben wir lediglich die Stromgrößen umgestellt, also Löhne, Gehälter und Renten. Das hatte den Hintergrund, dass die Durchschnittslöhne in der DDR 1250 Ostmark betrugen – wenn wir diese Löhne mit einem Kurs von 1:2 umgestellt hätten, wären den Leuten nur noch knapp 600 D-Mark geblieben. Im Westen Deutschlands hat man aber das Dreifache verdient, daher war das keine Option. Aus diesem Grund haben wir die Stromgrößen mit einem Kurs von 1:1, normale Schulden mit einem Kurs von 1:2 und die Auslandsschulden mit einem Kurs von 1:3 umgetauscht und das ergab ein Gesamtverhältnis von 1:1,81. Damit waren wir im Übrigen auch sehr nah an den Vorschlägen der Bundesbank.
Hedgework: Klang das früher nicht anders aus den Reihen der Bundesbank?
Dr. Waigel: Ich habe im Vorfeld eines Vortrages vor zwei Jahren einmal alle Protokolle der Bundesbank zu diesem Thema durchgelesen und dabei kommt man zu dem Ergebnis, dass auch die Bundesbank intern der Meinung war, dass man bei den Stromgrößen um einen Kurs von 1:1 nicht herumkomme. Dies wurde mir dann auch von verschiedenen Leuten der Bundesbank bestätigt und eingestanden, dass der damalige Vorschlag der Bundesbank, die Stromgrößen mit einem Kurs von 1:2 umzustellen, blauäugig war. Nach außen wollte man das damals allerdings nicht kommunizieren.
Hedgework: Kommen wir zum zweiten großen Projekt Ihrer Amtszeit, dem Euro. Sie gelten ja als der Namensvater des Euro – macht Sie das ein bisschen stolz?
Dr. Waigel: Nein. Ich werde allerdings sehr oft darauf angesprochen und es stimmt, dass ich auf den Namen Euro gekommen bin. Allerdings hatte das viel damit zu tun, dass ich wusste, Ecu kann ich den Deutschen nicht vermitteln. Ecu war die damalige Europäische Währungseinheit, European Currency Unit, die als Rechen- und Bezugsmittel der Wechselkurse verwendet wurde.
Hedgework: Der Klang war vielen wohl doch zu Französisch ...
Dr. Waigel: Ja, für die Franzosen war es als Name akzeptabel, weil es auch gleichzeitig der Name einer französischen Münze aus dem Mittelalter war. Aber in Deutschland stand es eben einzig und allein für die Abkürzung von European Currency Unit. So ein Kunstname wäre in Deutschland nur auf Ablehnung gestoßen. Infolgedessen habe ich alle möglichen Varianten durchgedacht: Mark war nicht durchsetzbar, denn da wären nur die Dänen mit Dänemark oder die Finnen mit Finnmark auf unserer Seite gewesen. Auch Franken war keine Option, da mir Felipe González erklärt hatte, dass die Währung bei den Spaniern dann Franco heißen würde und das wolle er nicht. Zuletzt bin ich dann irgendwie auf Euro gekommen.
Hedgework: Und dieser Vorschlag stieß dann auf Zustimmung…
Dr. Waigel: Mit diesem Vorschlag habe ich zuerst beim Bundeskanzler vorgesprochen, der mir allerdings sagte, dass der Name Euro schwierig zu vermitteln sei. Also habe ich als Nächstes mit dem französischen Finanzminister Jean Arthuis Kontakt aufgenommen. Auch er sagte mir, das sei nicht einfach. Allerdings lehnte er nicht grundsätzlich ab. Daraufhin habe ich den Vorschlag auf dem europäischen Gipfel 1995 in Madrid unterbreitet. Vor allem Jacques Chirac war zu Beginn noch sehr skeptisch, aber am Ende wurde der Vorschlag dann einstimmig angenommen.
Hedgework: Es wird aktuell viel darüber diskutiert, dass mit einer Währungsunion natürlich auch Produktivitätsstandards festgeschrieben werden und Abwertungen einzelner Länder nicht mehr möglich sind. Besonders die südlichen Länder der Eurozone ringen um eine Steigerung ihrer Produktivitätskraft. Viele der südlichen Eurostaaten sind hoch verschuldet und nur durch die Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) konnte hier etwas Zeit und Luft erkauft werden. Das hat Herr Draghi ja sehr geschickt gemacht. Wie denken Sie, geht es mit Europa nach der Schuldenkrise nun weiter?
Dr. Waigel: Mit Sicherheit steht Europa heute besser da als noch 2008. Dennoch stehen wir noch vor einigen Herausforderungen und ich denke nicht, dass die EZB ihre Geldpolitik unbegrenzt fortsetzen kann. Es wird Zeit, sich mit den Maßnahmen zu beschäftigen, die die Fed bereits vorgenommen hat: das Auslaufen der Anleihekäufe und ein Drehen an der Zinsschraube. Aber bei all der Kritik an Mario Draghi muss ich ihn auch in Schutz nehmen. Die Deutschen sind sich überhaupt nicht bewusst, dass es in der Hälfte der D-Mark-Zeiten negative Realzinsen gegeben hat. Das heißt, die Inflation war höher als die Zinsen – eine Enteignung der Sparer ist also keine Sonderheit der Nullzinspolitik. Selbstverständlich muss die Geldpolitik mittelfristig wieder normalisiert werden, da muss die EZB von überzeugt werden. Es ist nichtsdestotrotz ein Fakt, dass Mario Draghi mit seiner Ankündigung „whatever it takes“ den gefährlichen Trend in der Schuldenkrise gestoppt und das Richtige getan hat. Damit hat er die Wetten gegen den Euro abgewendet. Insofern waren diese Maßnahmen zum damaligen Zeitpunkt notwendig und richtig.
Hedgework: Aber haben die Südländer die von Mario Draghi „erkaufte“ Zeit für Reformen auch genutzt?
Dr. Waigel: In der Zwischenzeit haben einige Länder erfolgreiche Reformbewegungen durchgeführt: Irland, Portugal, Spanien – die Wachstumsraten dieser Länder sind mittlerweile alle über dem Durchschnitt. Das gilt auch für Zypern, das nur die Hälfte des Geldes der Hilfsmaßnahmen in Anspruch genommen hat und sich heute wieder am Kapitalmarkt finanziert. Das ist positiv.
Bleibt noch ein Problem, und das ist Griechenland. Griechenland hat zwar in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte gemacht, beispielsweise sind sie von einem Defizit von 15 Prozent im letzten Jahr zu einem Überschuss von 0,75 Prozent gekommen. Das Land ist aber noch nicht über den Berg und steht noch vor weiteren Herausforderungen. Vor allen Dingen stehen einige Länder noch vor Strukturreformen; Frankreich hat damit unter Macron begonnen, aber bei Italien beispielsweise lähmt die politische Unsicherheit die ökonomische Entwicklung.
Hedgework: Ihr Fazit?
Dr. Waigel: Es führt kein Weg daran vorbei – alle Staaten, vor allem aber die südlichen Staaten der Eurozone, müssen weitere Strukturreformen durchführen. Sie müssen ihren Arbeitsmarkt so gestalten, dass die Arbeitslosigkeit gesenkt wird, und da ist Deutschland mit seiner Agenda 2010 glücklicherweise schon sehr weit. In diesem Zusammenhang muss ich ausdrücklich auch den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder und die frühere Bundesregierung, die das mit Unterstützung von CDU/CSU auf den Weg gebracht hat, loben. Diese Reformen waren richtig und notwendig. In diesem Bereich müssen andere Länder noch mehr tun. Auf der anderen Seite herrscht aber auch in Deutschland Handlungsbedarf. Unsere Nettoinvestitionsquote ist zu niedrig, unsere Abgaben und Steuern sind relativ hoch. Auch einige Dinge, die in Zukunft anstehen, wie Bankenunion und Kapitalmarktunion, erfordern noch, dass einige Länder ihre Hausaufgaben bezüglich fauler Kredite machen. Es muss allen klar sein, dass hier die Voraussetzungen stimmen müssen. Solche Projekte kann man nicht auf einen Schlag einführen. Aber man könnte heute schon den Fahrplan miteinander vereinbaren, um den Weg für die Zukunft wieder klarer zu machen und etwas von dem aufzugreifen, was Macron bereits vorgeschlagen hat.
Hedgework: Vor der Einführung des Euro gab es eine vehemente Diskussion zwischen den sogenannten Krönungstheoretikern der Bundesbank und den sogenannten Monetaristen. Die Bundesbank argumentierte damals, dass erst wichtige Bereiche der Wirtschaft und Verwaltung harmonisiert sein müssten – Sozialversicherungssysteme, Steuersysteme, etc. – bevor eine gemeinsame Währung eingeführt werden könnte. Die Monetaristen hingegen vertraten die These, dass sich mit der Einführung der neuen Währung alles zwangsläufig von selbst harmonisiert.
Dr. Waigel: Das stimmt, aber wir haben den Euro ja nicht auf einen Schlag eingeführt. Die Vorbereitung für die Einführung des Euro haben etwa 20 Jahre gedauert. Es begann bereits 1979 mit dem Europäischen Währungssystem und ging dann mit dem Delors-Papier im Jahre 1988 weiter. Mit dem Delors-Papier und den Verhandlungen von Maastricht hatten wir dann nochmals weitere zehn Jahre Zeit zur Vorbereitung, bevor im Mai 1998 die Entscheidung fiel. Es versteht sich von selbst, dass wir vorher nicht alles harmonisieren konnten – sonst würde die Währungsunion erst frühestens im Jahre 3000 nach Christus Realität, aber wir haben auch nicht einfach ins Blaue hinein eine Währungsunion geschaffen.
Hedgework: Der Prozess der zunehmenden Harmonisierung geht ja weiter. Insofern hatten die Monetaristen Recht. Wir können aktuell beobachten, wie verschiedene politische Gruppierungen darum ringen, was die nächsten Schritte im Prozess der Europäischen Union jetzt sein könnten. Die Interessen der südlichen und nördlichen Eurostaaten divergieren ja offensichtlich. Wie viel Kompetenz müssten nationale Regierungen noch abgeben, damit eine weitere Harmonisierung erfolgt?
Dr. Waigel: Es ist meine feste Überzeugung, dass wir in absehbarer Zeit keine Veränderung der bisherigen Verträge erleben werden. Dazu müssten in 28 bzw. 27 Ländern Ratifizierungsverfahren durchlaufen werden, teilweise müssten Referenden durchgeführt werden und dazu ist die Stimmung im Moment einfach nicht geeignet. Stattdessen sollten wir Dinge anpacken, die unterhalb einer Vertragsänderung liegen – und da ist meiner Meinung nach eine Menge zu machen. Beispielsweise könnte man in der Steuerpolitik und im Insolvenzrecht eine weitere Harmonisierung avisieren. Oder man könnte, und das käme vermutlich auch bei der Bevölkerung sehr gut an, die weltweiten Steuervermeidungspraktiken europäisch harmonisieren und bekämpfen.
Hedgework: Da gibt es ja schon erste Erfolge …
Dr. Waigel: Richtig, ohne den Druck der EU hätte Google in Irland niemals 13 Milliarden Euro nachzahlen müssen. Leider werden solche Erfolge kaum registriert. Aber daran zeigt sich doch, dass viele Themen gegenüber anderen Großmächten und gegenüber globalen Playern nur auf europäischer Ebene durchzusetzen sind. Deutschland alleine könnte ganz sicher nicht genug Druck auf Irland ausüben, um eine solche Handlung zu erzwingen. Das kann nur die Europäische Kommission. Es gäbe zudem noch einige weitere Themen, die unabhängig von der Wirtschafts- und Währungsunion angegangen werden könnten. Ich würde beispielsweise die Verteidigungspolitik und die Rüstungsbemühungen koordinieren – und so Geld einsparen. Weiterhin würde ich die Entwicklungshilfe stärker bündeln und ein gemeinsames Afrika-Konzept entwickeln, um die Fluchtursachen in Afrika besser in den Griff zu bekommen. Natürlich müssen wir auch die Außengrenzen schützen. Das erwarten die Bürger einfach von uns. Dazu muss aber auch die Bereitschaft da sein, Ländern wie Griechenland und Italien, die die Außengrenzen der EU ausmachen, entsprechend zu unterstützen. Diese Länder können nicht den gesamten Grenzschutz für alle EU-Staaten alleine bestreiten, und wir haben kein Recht, dies von Ihnen zu erwarten.
Hedgework: Und welche Empfehlungen haben Sie für unsere Wirtschaft?
Dr. Waigel: Wir brauchen in Deutschland wieder mehr Investitionen. Unsere Nettoinvestitionsquote ist viel zu gering. Wenn wir hier ansetzen, dann kommt das den anderen Staaten zugute, da es das Außenhandelsungleichgewicht etwas reduzieren würde. Was mir persönlich noch besonders am Herzen liegt, ist die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in einigen Ländern. Dafür müsste man definitiv mehr Geld investieren, aber wir brauchen vor allem auch mehr neue Ideen, denn solange in einigen Ländern 20 bis 40 Prozent der jungen Generation arbeitslos sind, können wir von ihnen nicht verlangen, dass sie sich für Europa engagieren.
Hedgework: Denken Sie denn, dass wir aktuell das Ende des Euro und des europäischen Gedankens beobachten – oder sehen wir stattdessen einen neuen Anfang oder gar keins von beidem?
Dr. Waigel: Allen Zweiflern möchte ich ganz kühn sagen: „Eure Beerdigung wird in Euro bezahlt!“ Ich bin überzeugt davon, dass der Euro bestehen wird. Es gibt ja auch überhaupt keine Alternative dazu. Wie wollen wir denn sonst weltweit bestehen, gegenüber dem Dollar oder Renminbi? Dazu bedarf es aber auch noch einiger Anstrengungen und vor allem einer deutschen Verantwortung und, zusammen mit anderen Partner, einer deutschen Führungsrolle – sonst läuft in Europa nichts.
Hedgework: Kommen wir zum Schluss zum Tagesaktuellen: Wie bewerten sie den Start unserer aktuellen Regierung – hat sie ihre Arbeit gut aufgenommen?
Dr. Waigel: Da kann man im Moment noch kein Urteil fällen. Aber auch hier sehe ich keine Alternative. Ja, es war mühsam und es war nicht einfach. Das sage ich auch zugunsten der SPD, denn natürlich wäre es einfacher gewesen, jetzt erstmal vier Jahre in die Opposition zu gehen. Aber ich finde es bemerkenswert, dass die Partei sich ihrer Verantwortung nicht entzogen hat und dem Drängen des Bundespräsidenten gefolgt ist. Ich hoffe, dass jetzt die wichtigsten Themen angepackt werden und man trotz aller Unterschiede vernünftig miteinander umgeht. Das hat ja auch in einer großen Koalition von 1966 bis 1969, mit so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Kiesinger und Brandt oder Helmut Schmidt und Rainer Barzel funktioniert. Oder bei Franz Josef Strauß und Herbert Wehner. Das muss man sich erst mal vorstellen – ungleicher können (Brüder-)Paare ja gar nicht sein. Auch ein sehr gutes Beispiel sind Franz Josef Strauß und Karl Schiller – trotz aller Gegnerschaft und Feindschaft von früher haben die beiden eine passable Arbeit abgeliefert.
Hedgework: Dann bleibt zu hoffen, dass dies der jetzigen Großen Koalition auch gelingt. Haben Sie einen Rat für Olaf Scholz, der ja quasi ihr Nachfolger ist?
Dr. Waigel: Ich denke, dass Herr Scholz ein besonnener und nüchterner Mann ist, der sich schnell in Probleme einarbeitet und insofern wünsche ich ihm „good luck!“. Er wird ja selbst merken, auf wie vielen Hochzeiten er gefordert ist; nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa, beim IWF und bei den G20. Seit Helmut Schmidt 1972 die Bereiche Geld und Kredit vom Wirtschaftsministerium ins Finanzministerium überführt hat, ist es ohne Zweifel das wichtigste Ministerium. Dafür gibt es auch einen ganz herrlichen Schlussvers von Franz Grillparzer, der einmal gesagt hat: „Der Minister des Äußeren will sich äußern; der Minister des Inneren kann sich nicht erinnern; der Minister der Kriege kennt keine Siege; nur nach der Pfeife des Ministers der Finanzen müssen sie alle tanzen.“
Hedgework: Ich bedanke mich sehr für dieses Gespräch, Herr Dr. Waigel.
Das Interview führte Uwe Lill
Vita: Dr. Theo Waigel
Politische Stationen
1957: Eintritt in die Junge Union
1960: Eintritt in die CSU
1971-1975: Landesvorsitzender der Jungen Union Bayern und Mitglied des CSU-Landesvorstands
1972-2002: Mitglied des Deutschen Bundestags
1982-1989: Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag und 1. stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
1988-1999: Vorsitzender der CSU
1989-1998: Bundesfinanzminister
seit 2009: Ehrenvorsitzender der CSU
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