„Gute Aussichten für einen neuen Bullenmarkt“

  • Tilmann Galler
  • J. P. Morgan Asset Management

MÜNCHEN – Tilmann Galler zeigt sich optimistisch für die Entwicklung der Aktienbörsen im neuen Jahr. Doch vorerst favorisiert der Kapitalmarktstratege von J. P. Morgan Asset Management noch defensive Value-Titel und Energie- und Rohstoff-Aktien – natürlich mit Best-In-Class-Ansatz.

? Nach einem Jahr Baisse wird es langsam Zeit für eine Trendwende. Wie sehen Sie das?
Tilmann Galler: Die Aussichten für einen neuen Bullenmarkt sind gut – trotz kurzfristig weiterer Volatilität. Es ist nur die Frage, wann absehbar wird, dass der Straffungszyklus der Zentralbanken zu Ende geht und diese wieder unterstützend auf die Märkte einwirken. Nach einem solchen Signal halten wir Ausschau.

? Aber wenn das Signal kommt, ist dann nicht zu spät zum Einstieg?
Galler: Nein, Bullenmärkte dauern Jahre. Rückblickend lässt sich sagen, dass positive Marktzyklen im Durchschnitt fünf Jahre anhielten. Und in Bezug auf den Einstiegszeitpunkt: Nach meiner Ansicht schaffen selbst Profis selten das perfekte Timing. Deshalb sollte man eigentlich immer investiert bleiben.

? Auch in Krisenzeiten?
Galler: Je nach Marktphase empfiehlt es sich natürlich, taktische Schwerpunkte zu setzen und das Risiko zu erhöhen oder rauszunehmen. Aber entscheidend ist, dass man investiert ist. Denken Sie zurück: Wer am ungünstigsten Zeitpunkt 1987 vor dem Crash investierte, hat bis heute immer noch eine sehr gute Rendite von jährlich neun Prozent erwirtschaftet.

? Wie sieht Ihr Inflationsszenario aus?
Galler: Wir gehen davon aus, dass wir gerade in den USA, wo wir aufgrund der geringeren Ausprägung der Energiekrise die beste Visibilität haben, die Spitze erreicht haben und in den kommenden Monaten deutlich weniger ausgeprägte Inflationszahlen bekommen werden. Wir haben ja die luftigen Höhen von acht, neun Prozent wieder verlassen und sind nun auf der etwas längeren Reise Richtung zwei bis drei Prozent. Die Energiekomponente wird abnehmen, die Güterpreisinflation wird weniger, und auch die Dienstleistungsinflation dürfte an Kraft verlieren.

? Was heißt das für Europa?
Galler: In Europa ist die Lage schwieriger, weil wir die angespannte Energiesituation haben. Zudem haben wir das Thema der schwachen Währung, die ebenfalls einen inflationären Schub mitbringt. Aber auch in Europa sollte im Verlauf des nächsten Jahres der Inflationsdruck nachlassen.

? Die EZB hofft bei der Inflationsrate bis Ende nächsten Jahres auf eine zwei vor dem Komma. Halten Sie das für realistisch?
Galler: Das ist realistisch, weil die EZB dann auch beginnen dürfte, in der Zinspolitik deutlich moderater zu werden. Sie muss natürlich schauen, wo die größten Risiken sind. Zurzeit sind das die Preisrisiken, aber es ist anzunehmen, dass die Wachstumsrisiken deutlich größer werden.

? Die Konjunktur ist aber allenfalls ein Nebenziel der EZB.
Galler: Ganz offiziell geht es bei der Geldpolitik immer um die Preisstabilität. Aber in den letzten Jahren haben sich Schattenziele gebildet, wie etwa der Zusammenhalt der Währungsunion und eben auch die Berücksichtigung der Konjunktur.

? Erwarten Sie eine Rezession?
Galler: Unserem Szenario nach werden wir im ersten Quartal des neuen Jahres eine Rezession erleben. Danach muss man sehen, wie schnell sich die Lage erholen kann. Dabei können wir uns sehr gut vorstellen, dass die EZB auf Abwarten umschaltet, weil mit der Rezession auch die Nachfrage zurückgehen und dies disinflationäre Effekte auslösen dürfte.

? Wie viel ist schon eingepreist?
Galler: Unserer Meinung nach ist die Überbewertung weg. Aktien sind inzwischen durchaus fair und attraktiv bewertet. Damit sehen wir zumindest eine leichte Rezession eingepreist – aber nicht eine schwere Rezession, mit der stärkere Gewinnrückgänge einhergingen.

? Wie heftig wird der Wirtschaftseinbruch ausfallen?
Galler: Wir bei J. P. Morgan Asset Management sehen zumindest das Risiko, dass es zu einer tieferen Rezession kommen kann. Beispielsweise aufgrund einer übertrieben restriktiven Geldpolitik in den USA und in Europa bei einer Verschärfung auf dem Energiemarkt. Das ist es auch, was uns im Moment davon abhält, Aktien überzugewichten. Falls eine leichte Rezession das dominierende Szenario wäre, dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt zum Aufstocken. Aber wir sehen ein ähnlich hohes Risiko, dass es zu einer tiefen Rezession kommen könnte, was eine weitere Neubewertung der Aktien bedingen würde.

? Lassen Sie uns über den Dollar reden, der den Euro ziemlich unter Druck gesetzt hat. Wie geht es da weiter?
Galler: Was die Dollarstärke angeht, basiert diese ganz klar auf dem Safe-Haven-Status, der politisch bedingt ist. Und dann kommen die Terms of Trade hinzu. Die USA sind energietechnisch autark, was bedeutet, dass sie vom Anstieg der Energiepreise nicht getroffen sind und die Terms of Trade sich deutlich verbessert haben.

? Was heißt das für den Dollarkurs?
Galler: Perspektivisch halten wir den Dollar für überbewertet und erwarten längerfristig einen Kurs zum Euro in Richtung 1,30. Dabei gehen wir davon aus, dass im Endeffekt die Faktoren, die zu seiner Stärke beigetragen haben, sich wieder abmildern – die politischen Risiken müssen weniger werden, und die Energie- und Rohstoffpreise müssen sich normalisieren.

? Welche Aktien stehen zurzeit bei Ihnen im Fokus?
Galler: Zurzeit sind mehr die defensiven Value-Titel gefragt – und durchaus auch die Energie- und Rohstofftitel. Das ist der Bereich, der zwar nicht immun gegen eine Rezession ist, aber im jetzigen Umfeld einfach besser dasteht. Wir haben immer noch einen Ölpreis von über 80 Dollar bei einer latenten Rezession, was zeigt, dass das Kartell der OPEC wieder funktionaler ist, um das Angebot zu verknappen und die Preise zu stützen.

? Man sollte also nicht auf einen fallenden Ölpreis wetten?
Galler: Es spricht vieles dafür, dass wir uns in einem Rohstoffzyklus befinden, der längere Zeit anhält. Dazu gehört auch, dass Energieunternehmen, die fast zehn Jahre lang ein De-Rating erfahren haben, wieder in einer stärkeren Position sind – und letztlich auch hohe Ausschüttungen erwarten lassen. Eine Entspannung auf dem Ölmarkt könnte hier etwas vom Momentum wegnehmen. Wenn andererseits in Asien die zyklische Erholung einsetzt, wird von dort aus die Nachfrage nach Rohstoffen ansteigen, was die Preise oben halten könnte.

? Hier fragt sich, wie Rohstoffinvestments zum ESG-Gedanken passen?
Galler: Bezüglich der Versorgungssicherheit werden wir noch viele Jahre von fossilen Rohstoffen abhängig sein, bevor die Erneuerbaren den Bedarf decken. Deshalb bin ich ein großer Freund des Best-in-Class-Ansatzes, damit wir erreichen, dass die Unternehmen, die in den schmutzigen Branchen tätig sind, ihre Arbeit so wenig schmutzig wie möglich machen.

Tilmann Galler ist Kapitalmarktstratege bei J. P. Morgan Asset Management. Der Diplom-Ökonom ist Teil des globalen „Market Insights“-Teams, das für institutionelle und Retail-Kunden Informationen rund um die Kapitalmärkte erstellt und Implikationen für die Investmentstrategien ableitet.

Hinweis: Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in TiAM 04/2022
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