Europäischer Aktienmarkt attraktiver als gedacht

- Matthias Born
- Berenberg
FRANKFURT – „Auf den ersten Blick erscheint Europa derzeit als Anlageziel wenig spannend“, sagt Matthias Born, Head of Investments bei Berenberg. „Es lohnt sich aber, genauer hinzuschauen: Mit einem aktiven und selektiven Investmentansatz auf ausgewählte Sektoren und Titel ergeben sich durchaus Möglichkeiten.“
Ab hier folgt die Marktanalyse von Matthias Born, Head of Investments & CIO Equities, und Justus Schirmacher, Portfoliomanager Equities bei Berenberg:
„In europäische Aktien zu investieren, liegt aktuell nicht im Trend. Pessimistische Einschätzungen zu Europas Zukunft sind allgegenwärtig. Als Gründe werden meist ein sich verlangsamendes Wirtschaftswachstum, hohe Energiepreise, eine wenig attraktive Kostenstruktur und ein Mangel an Innovation vorgebracht. Es herrscht die Überzeugung vor, dass Europa lediglich von seinen historischen Errungenschaften zehrt, während die USA in führender Rolle die Zukunft gestalten. Dieser pessimistische Ausblick nährt sich nun seit vielen Jahren an der unbestreitbar schlechten Entwicklung des europäischen Aktienmarktes. So bleiben die Renditen der letzten 15 Jahre nämlich deutlich hinter den meisten globalen Indizes zurück. Dieser Track Record soll keinesfalls unter den Tisch fallen, es muss aber darauf hingewiesen werden, dass er eben nur einen Teil des Bildes wiedergibt und dem europäischen Markt in all seiner Vielschichtigkeit nicht gerecht wird.
Tatsächlich konnten einige Bereiche des hiesigen Marktes, wie etwa die Halbleiterindustrie im IT-Sektor oder das Gesundheitswesen, über diesen Zeitraum eine ausgezeichnete Rendite erzielen. Das ist umso erfreulicher, da diese Marktsegmente aufgrund ihres strukturellen Wachstums an Bedeutung hinzugewinnen und höhere Gewichte im Gesamtmarkt einnehmen. Es ist diese Verschiebung, die zeigt, dass, entgegen der öffentlichen Wahrnehmung, der europäische Aktienmarkt an Attraktivität gewonnen und nicht verloren hat.
Im Folgenden werden wir die Performance europäischer Aktienmärkte in den vergangenen beiden Jahrzehnten analysieren, die Ursachen für das verhaltenen Ergebnisse seit der Finanzkrise erläutern und herausstellen, welche Bereiche trotz dessen besonders gut abgeschnitten haben. Schließlich stellen wir die These auf, dass, obwohl europäische Indizes nicht mit dem Wachstumspotenzial anderer Märkte mithalten konnten, ein selektiver Investmentansatz durchaus eine attraktive Rendite abgeworfen hätte.
Den europäischen Aktienmarkt zeichnet eine äußerst heterogene Unternehmenslandschaft aus. Während einige Industrien bestenfalls ihre Wachstumsgrenze erreicht haben und andere schlimmstenfalls mit dem Verfall zu kämpfen haben, verfügt Europa außerdem über eine ganze Reihe an hochinnovativen und bestens positionierten Unternehmen. Gerade deshalb plädieren wir in Europa auch zukünftig für einen fokussierten Investmentansatz, der sich auf Europas Stärken konzentriert.
Fehlendes Gewinnwachstum bildet das Kernproblem Europas
Die Hauptursache für die unterdurchschnittliche Performance des europäischen Marktes lässt sich leicht identifizieren. Ein Vergleich der Gewinnentwicklung auf Indexebene zeigt, dass Europa gegenüber den globalen Pendants erheblich zurückliegt. Wenn wir die aktuellen Gewinnerwartungen für den MSCI Europe (gemessen als 12-monatige Konsenserwartungen der Gewinne je Aktie) mit dem Höchststand von 2008 vergleichen, hinkt Europa immer noch hinterher. Europa hat also über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren kein positives Gewinnwachstum verzeichnet. Diese Tatsache ist insbesondere im Vergleich zum S&P 500 enttäuschend. Der Gewinn des amerikanischen Indexes hat nämlich über den gleichen Zeitraum kräftig hinzugewonnen und diese Tendenz bleibt bestehen, selbst wenn man die umfangreichen Aktienrückkäufe in den USA über die letzten Jahre außer Acht lässt.
Eine weitere Erklärung für die unterdurchschnittliche Performance Europas findet sich in der unterschiedlichen Bewertung, die Investoren dem europäischen Markt im Vergleich zu globalen Indizes zuschreiben. Vergleicht man das aktuelle europäischen Kurs-Gewinn-Verhältnis mit der Periode vor der globalen Finanzkrise, zeigt sich das Niveau unverändert bis rückläufig. Dies steht in deutlichem Kontrast zum MSCI World oder dem S&P 500. Beide Indizes haben in diesen Jahren Aufwertungen erfahren, was der jeweiligen Indexperformance Rückenwind verliehen hat.
Europas Sektor-Struktur belastet die Index-Performance
Europa wird oft als reich an Branchen beschrieben, bei denen die Spanne von ausgereift bis strukturell rückständig reicht. Das träge Gewinnwachstum Europas in den letzten 15 Jahren ist eine Folge davon, dass der europäische Markt übermäßig stark auf Sektoren ausgerichtet ist, die seit der globalen Finanzkrise erhebliche strukturelle Gegenwinde erfahren haben. Kurz vor dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 hatte der europäische Markt einen starken Finanzsektor (ca. 5 Prozentpunkte mehr des Indexgewichtes als der MSCI World). Die Auswirkungen der Finanzkrise trafen europäische Indizes daher heftiger, und auch die anhaltend sinkenden Zinssätze beeinträchtigten im Nachgang der Krise die Ertragslage der Banken.
Die anderen vergleichsweise hohen Gewichtungen im europäischen Markt, die Versorgungsbetriebe und Grundstoffe, schnitten in der wachstumsschwachen Welt nach der Krise nicht viel besser ab. Während zum Beispiel der durch China ausgelöste Rohstoff-Superzyklus im Vorfeld der Krise noch dem großen europäischen Rohstoffsektor zugutekam, war dies danach nicht mehr der Fall. Alle drei Sektoren, die hoch im Index vertreten waren, verzeichneten im Laufe von 15 Jahren ein negatives Gewinnwachstum. Im Vergleich zum durchschnittlichen Gewinnwachstum des MSCI World liegt Europe hier deutlich zurück. Der hingegen in Europa deutlich niedriger gewichtete IT-Sektor, entwickelte sich in den letzten 15 Jahren am stärksten.
Allerdings ist die Sektorallokation nur ein Teil der Geschichte. Zur Wahrheit gehört auch, dass die europäischen Unternehmen in einigen dieser Sektoren schlichtweg nicht mit ihren direkten internationalen Kontrahenten mithalten konnten. So entwickelten sich die durchschnittlichen Gewinne des internationalen Finanz- und IT- Sektors deutlich besser als die europäischen. Dies ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass das Epizentrum der Krise in den USA lag. In den folgenden Jahren sahen sich europäische Banken mit einer anderen regulatorischen Umgebung, stärkerem Wettbewerb und einem weniger vorteilhaften Zinsumfeld konfrontiert. Im IT-Sektor profitierten Amerikas Unternehmen von einem attraktiveren regulatorischen Umfeld, homogeneren Märkten und günstigeren Finanzierungsmöglichkeiten, vor allem in der Frühphase. All das verhalf einer ganzen Reihe an US-Firmen zu ihren heute dominanten Positionen.
Europäische Renditen, die sich sehen lassen können
Trotz dieser wenig ermutigenden Analyse wäre es unklug, die Tatsache nicht zu berücksichtigen, dass es in den letzten beiden Dekaden dennoch möglich war, durch Investitionen in Europa attraktive Renditen zu erzielen. Ein selektiverer Anlageansatz, der auf spezifische Teilbereiche des europäischen Marktes abzielt, hätte Renditen erbringen können, die sich auch im internationalen Vergleich hätten sehen lassen können. Wenn wir den MSCI Europe Quality, Growth und Small Cap Index betrachten, sieht die Bilanz deutlich besser aus, und reicht sogar nahe an die Performance des S&P 500 heran.
Die Stärken Europas und wo sie zu finden sind
Die starke Performance der Teilmärkte im europäischen Aktiensektor zeugt von den inhärenten Stärken des europäischen Kontinents. In Europa sind zwar keine Tech-Giganten angesiedelt, wie man sie in den USA findet. Dennoch gibt es viele weltweit führende Unternehmen, die von robusten strukturellen Rückenwinden profitieren. Diese Unternehmen investieren in Wachstum, die der Markt bietet, und in ihre Wettbewerbspositionen. Der Schlüssel liegt darin, sich auf die wenigen guten Unternehmen zu konzentrieren und den Rest wegzulassen. Sektoren bieten hier bereits eine nützliche Klassifizierung.
Wie eine kürzlich durchgeführte Analyse von Goldman Sachs Research zeigt, gibt es deutliche Unterschiede in den Investitionsniveaus zwischen den Sektoren. Während Unternehmen im Gesundheitswesen und IT in Europa erhebliche Anteile ihrer Cashflows in Wachstum und Forschung und Entwicklung investieren, investieren Unternehmen im Energiesektor und im Bereich Grundstoffe kaum Geld. Da wir davon überzeugt sind, dass solche Investitionen langfristig wichtige Treiber für Gewinnwachstum und Geschäftserfolg sein werden, konzentrieren wir uns auf Sektoren, die solche Investments aufweisen. Die Ausnahme bestätigt die Regel, was in diesem Fall der Sektor Versorgungsunternehmen ist. Die hohe Investitionsrate in diesem Sektor wird hauptsächlich von erneuerbaren Energien angetrieben. Wir sind jedoch skeptisch, wie hoch die Renditen auf diese Investitionen sein werden, da unserer Ansicht nach aktuell nur wenige erneuerbare Energieunternehmen wirklich attraktive Wettbewerbspositionen einnehmen.
Innerhalb der Halbleiterindustrie ergibt sich ein anderes Bild. Hier könnten Investitionen auch weiterhin zu attraktiven Renditen führen. Ein prominentes Gesprächsthema in diesem Jahr, die Künstliche Intelligenz, bietet uns ein anschauliches Beispiel. Während US-Unternehmen in diesem Zusammenhang die meiste Aufmerksamkeit auf sich zogen, gibt es viele europäische Halbleiterunternehmen, die untrennbar mit dem Aufstieg der KI verknüpft sind und ohne die keine der optimistischen Prognosen, die in letzter Zeit kursieren, erreichbar wären. Tatsächlich sind viele der kritischsten Aspekte der Wertschöpfungskette der Branche in Europa angesiedelt.
Die Stärken Europas reichen über die Halbleiterindustrie hinaus. Im Bereich Luxusgüter hat Europa eine feste Position an der globalen Spitze, mit Marken, die über Generationen hinweg aufgebaut wurden, und einem Erbe, das kaum zu übertreffen ist. Zugleich zeichnen sich diese Unternehmen auch durch ihre Innovationskraft aus; sie denken voraus und gehen mit der Zeit. bleiben an vorderster Front. Ähnliche Erfolgsgeschichten können über europäische Industrieunternehmen, Gesundheitsunternehmen und natürlich Europas innovationsstarken Mittelstand berichtet werden.
Zusammenfassung: Europa gewinnt an Stärke
Insgesamt plädieren wir für einen aktiven und selektiven Anlageansatz, der sich auf die Stärken innerhalb Europas konzentriert. Zusätzlich sind wir überzeugt davon, dass Europa inzwischen besser aufgestellt ist als noch vor 15 Jahren zuvor. Strukturelles Wachstum hat die Bedeutung einiger Sektoren deutlich verschoben und diese Entwicklung wird weitergehen. Europa weist heute im Vergleich zum MSCI World ein Übergewicht bei Basiskonsumgütern, der Industrie und dem Gesundheitswesen auf. Dies sind Sektoren, in denen europäische Unternehmen starke Wettbewerbspositionen aufweisen und von strukturellen Treibern profitieren. Das Übergewicht im Finanzsektor gegenüber dem globalen Benchmark wurde ebenfalls reduziert. Lediglich im Technologiesektor hat sich das Untergewicht in Europa durch das erhebliche Wachstum in den USA erhöht. Von Vorteil ist aber, dass Europa dadurch eine weniger hohe Konzentration auf einige wenige Tech-„Mega-Caps“ und damit eine breitere Diversifizierung bietet.“