Ein neuer, systematischer Ansatz zur Früherkennung von Finanzmarktkrisen

  • Felix Fernandez
  • OpenMetrics Solutions

FRANKFURT — Die Auswirkungen der Finanzmarktkrise 2008 sind heute noch weltweit präsent, die Angst vor der nächsten schweren Krise besteht fort. Insofern ist eine frühzeitige Erkennung von Krisen eines der wichtigsten Themen, das den Finanzmarkt bewegt. Felix Fernandez von OpenMetrics Solutions stellt einen neuen Ansatz zur Früherkennung vor.

„Der zuverlässigste Weg die Zukunft vorherzusagen, ist zu versuchen, die Gegenwart zu verstehen.“
John Naisbitt

Die Auswirkungen der letzten großen Finanzmarktkrise im Jahr 2008 sind heute noch weltweit präsent. Ungeachtet der Tatsache, dass Politik, Regulierungsbehörden und Zentralbanken es gemeinsam geschafft haben, die Finanzmärkte nach 2008 zu stabilisieren und damit eine "Kernschmelze" des gesamten Finanzsektors vermeiden konnten, ist die ständige Angst vor der nächsten schweren Krise geblieben. Insofern ist eine frühzeitige Erkennung von Finanzmarktkrisen vermutlich eines der wichtigsten Themen, die die globale Finanzmarktcommunity regelmäßig bewegen.

In diesem Artikel möchte OpenMetrics Solutions - ein Spin-Off der ETH Zürich - einen neuen, systematischen Ansatz zur Früherkennung von Finanzmarktkrisen vorstellen.

Der Finanzmarkt wird durch seine Akteure gesteuert
Der Finanzmarkt ist ein System aus Marktteilnehmern, die häufig – Insbesondere bei Verlustphasen – ein ausgeprägtes Herdenverhalten zeigen. In solchen Verlustphasen bringen viele Marktteilnehmer ihre Investitionen schnell in Sicherheit, was zu sich selbst verstärkenden Massenverkäufen führen kann, die dann letztendlich das Potential bergen, Finanzmarktkrisen auszulösen.

Wenn nun der Finanzmarkt und seine Akteure sich auf einen gemeinsamen Standard zur Definition, Messung und Erkennung von Marktkrisen verständigen würden, könnten Absicherungsmaßnahmen früher und effizienter ergriffen werden als in der Vergangenheit. Damit hätten viele Finanzmarktteilnehmer eine einheitlichere Perspektive auf das Marktrisikoniveau und könnten die tatsächlichen Risiken innerhalb der eigenen Positionen besser bewerten.

Indirekt könnte dies zu einer Stabilisierung der Märkte führen, da die am Markt verfügbaren Absicherungskonzepte von vielen Teilnehmern früher und zielführender genutzt würden. Zudem könnten Absicherungen über Clearinghäuser die bilateralen Risiken reduzieren und negative Dominoeffekte zwischen Marktteilnehmern begrenzen.

Die Suche nach dem richtigen Ansatz
Es gibt zur Früherkennung von Finanzmarktkrisen sehr viele unterschiedliche Ansätze und Interpretationen, dennoch hat sich bisher kein Verfahren als ausreichend zuverlässig erwiesen, dass es in der Industrie breite Anerkennung bzw. langfristige Nutzung erfahren hätte.1

Die meisten Verfahren sind entweder zu langsam, nicht präzise genug oder haben zu viel Interpretationsspielraum und liefern damit keine eindeutigen Signale. Insofern stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem richtigen mathematischen Modell für Finanzmärkte bzw. die Interpretation der daraus resultierenden Zeitreihen.

Bei den heute üblichen Trend- bzw. volatilitätsgesteuerten Ansätzen wäre Absicherung erst dann gegeben, wenn die Volatilitäten ansteigen und man sich bereits mitten in einer Negativbewegung befindet – gerade dann werden Absicherungen unverhältnismäßig teuer.

Während viele versuchen, Muster in Finanzmarktzeitreihen zu erkennen (entweder durch technische Analyse oder mit Machine Learning bzw. neuronalen Netzen), muss man feststellen, dass alle diese Verfahren faktisch gescheitert sind. Sicherlich kann man in jeder zufälligen Zeitreihe Muster erkennen, leider sind diese Muster ebenfalls zufällig und haben daher keine Aussagekraft für eine zukünftige Interpretation. Abgesehen davon sind viele dieser Verfahren anfällig für exzessives „Parameter Fitting“.

Wenn wir also davon ausgehen, dass Finanzmarktzeitreihen grundsätzlich stochastisch sind, so gibt es zumindest einen Modellansatz, der sich bisher als ziemlich belastbar dargestellt hat: Die Bayesian Change Point (BCP)-Methode.

Die erste industrielle Anwendung dieser Technologie hat im Bereich der Bioinformatik bei der Analyse von DNA-Sequenzen stattgefunden. Hier ging es um die Erkennung von unterschiedlichen DNA-Abschnitten bzw. Gendefekten.2

Diese Technologie wurde an der ETH in der Zeit von 2011-2014 für die Anwendung auf Finanzmarktzeitreihen intensiv untersucht. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten führten zu der Publikation von Dr. Tobias Setz’ Dissertation im Jahr 2018, in der die konkrete Anwendung der Bayesian Change Point (BCP)-Methode für Problemstellungen in der Finanzindustrie aufgezeigt wurde.3

Die wichtigste Erkenntnis ist, dass es nicht darum geht, Prognosen zu erstellen (das ist in einem Finanzmarkt nicht möglich), sondern vielmehr darum, den aktuellen Zustand des Marktes möglichst präzise bestimmen zu können.

Systematische Früherkennung von Finanzmarktkrisen in der Praxis
Im Wesentlichen basiert der Ansatz zur Früherkennung von Finanzmarktkrisen auf der Berücksichtigung einer zusätzlichen „dritten“ Dimension, der Strukturbruchwahrscheinlichkeit, zusätzlich zu den zwei bereits bekannten Dimensionen Trend und Volatilität.

Die Strukturbruchwahrscheinlichkeit (SBX)4 zeigt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich in einer Zeitreihe eine neue Dynamik bzw. ein neues Regime entwickelt.

Man kann das sehr gut in folgenden Grafiken beobachten: Links im Bild sieht man übereinander zwei ähnliche Indizes (blaue Linien, beide haben den gleichen Trend und die gleiche Volatilität). Allerdings ist nur der obere Index ein echter Aktienindex, der untere ist ein synthetischer Index, der mit einem Zufallsgenerator erzeugt wurde.

Auf der rechten Seite des Bildes sieht man, dass die BCP-Methode im „echten“ Index (obere Grafik) Strukturbruchwahrscheinlichkeiten erkennt, während der untere Index keine aufzeigt. Das hat den Grund, dass der synthetische Index immer mit der gleichen Dynamik bzw. dem gleichen Prozess generiert wurde.


Bild 1: Erkennung von Strukturbrüchen in Finanzmarktzeitreihen

Aus den drei Dimensionen (SBX, Trend & Varianz) kann man ein Stabilitätssignal berechnen, welches sich in einer Skala von 0 (instabil) bis 1 (stabil) bewegt und direkt für eine Steuerung der Absicherung verwendet werden kann. Im folgenden Bild ist das Konstruktionsprinzip der Stabilitätssignale dargestellt.


Bild 2: Berechnung Stabilitäts-Signale

Die nachfolgende Signalmatrix zeigt die Stabilitätssignale für die STOXX Index-Familie (EURO STOXX 50®, STOXX® Europe 600, sowie die dazugehörigen Indizes der Industriesektoren).


Bild 3: Stabilitäts-Signale-Matrix (STOXX 600-Sektoren)

Wichtig für die Beurteilung der Qualität solcher Signale ist eine korrekte Simulation der Effekte für das jeweilige Investment-Universum. Die Simulationen zeigen, dass über sehr viele Assetklassen in der Regel die auftretenden Negativbewegungen früh identifiziert werden können. Dies führt zu einer erheblichen Verbesserung der risikoadjustierten Renditen (Sharpe Ratio) und – was noch wichtiger ist – die maximalen Verluste können signifikant reduziert werden.

Diese Vorteile sprechen für sich und sind für folgende Assetklassen gut nutzbar: Aktien und Aktienindizes, Rohstoffe und Rohstoffindizes sowie Währungen. Für andere Assetklassen muss von Fall zu Fall untersucht werden, ob sich ein signifikanter Mehrwert ergibt.


Bild 4: Anwendung Stabilitäts-Signale (STOXX 600)

Im obigen Bild haben wir die Stabilitätssignale 1:1 für die Steuerung des STOXX Europe 600 Net Return Index verwendet (blaue Kurve). Der wesentliche Vorteil ist sehr gut während der Finanzmarktkrise 2008 zu beobachten (grüne Kurve): Während dieser Zeit kann der maximale Verlust auf -21% (statt -58%) begrenzt werden, zudem wird die Sharpe Ratio von 0,23 auf 0,46 verdoppelt. Als Benchmark nutzen wir eine passive Absicherung: Ein 50/50 Portfolio aus Index & Cash mit 0% Rendite (schwarze Kurve).

Fazit
Es gibt aus unserer Sicht keinen Grund dafür, dass Finanzmarktteilnehmer Verfahren zur Risikosteuerung verwenden, die keinen guten Schutz gegen Finanzmarktkrisen bieten.

Für die Finanzmarktteilnehmer mit eigenen IT-Kapazitäten sind die notwendigen Signalberechnungen in die internen Systeme integrierbar. Für solche, die über diese IT-Kapazitäten nicht verfügen, ist ein Bezug der Signale über OpenMetrics Solutions möglich.

Schon jetzt interessieren sich Indexanbieter für Berechnung von Stabilitätssignalen, insofern ist es nur eine Frage der Zeit, bis diese Signale für die meisten Standardinstrumente angeboten werden.


Literaturverzeichnis

1 “Evaluating Value-at-Risk Models before and after the Financial Crisis of 2008: International Evidence” (S. Degiannakis, C. Floros, A. Livada – 2012), https://mpra.ub.uni-muenchen.de/80463/1/MPRA_paper_80463.pdf

2 BCP for DNA analysis (H.Xing, W. Liao, Y. Mo & M. Q. Zang - 2012), https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/22844240

3 T. Setz, STABLE PORTFOLIO DESIGN USING BAYESIAN CHANGE POINT MODELS AND GEOMETRIC SHAPE FACTORS, Dissertation ETH Zurich No.: 24754, (2018). https://doi.org/10.3929/ethz-b-000244960

4 SBX – Structural Break Index® / SBX ® sind geschützte Marken der OpenMetrics Solutions GmbH, Zürich

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