„Die Welt wird neu sortiert – und Europa sieht zu“

- Andreas Grünewald
- FIVV AG
München – Es ist Zeit, dass Europa aus dem politischen Dornröschenschlaf erwacht. Ein visionäres China und protektionistische USA treffen auf eine planlose EU. Die großen Zukunftshemen werden aktuell entschieden – zu oft ohne uns.
Kommentar von Andreas Grünewald, Gründer und Vorstand, FIVV AG
Es ist verrückt: Der europäische Binnenmarkt erwirtschaftet weltweit das größte Bruttoinlandsprodukt, aber die USA und künftig immer stärker China bestimmen die Weltpolitik und setzen die wirtschaftlichen Regeln. Wir schaffen es bis dato verhängnisvollerweise nicht, unseren europäischen Binnenmarkt als Volkswirtschaft – und diese wäre immerhin die größte der Welt – zu definieren. Es mangelt uns an Politikerinnen und Politikern, die mit breiter Brust und Weitsicht die Interessen Europas vertreten sowie mit einer begeisternden Informations- und Aufklärungspolitik das Volk mitnehmen.
Dramatischerweise fängt das Problem allerdings schon weit vorgelagert an: Was sind überhaupt die zukünftigen Interessen von Europa? Wer definiert die langfristen Ziele der Europäischen Gemeinschaft? Wie sehen unsere Zukunftspläne, unsere Visionen auf Sicht der nächsten fünf, zehn oder gar 20 Jahre aus?
Eigentlich unfassbar, aber auf die obigen Fragen haben wir keine verbindlichen Antworten. Gleichzeitig fällt es selbst uns hierzulande relativ leicht, einen umfassenden Vortrag darüber zu halten, welche Ziele das weit entfernte China hat. Die nach den USA mittlerweile zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt hat nicht nur ihre auf den Parteitagen vorgestellten Fünfjahrespläne, sondern sogar einen visionären Plan für die kommenden 30 Jahre. Der chinesische Staatspräsident Xi Jinping will das Land zur wohlhabenden, ökologischen Hightechnation machen. Hierbei setzt er auf einen Mix aus staatlicher Lenkung und Deregulierung sowie eine immer weiter geöffnete Volkswirtschaft.
Ziel ist es, bis zum Jahre 2025 zu einem Innovationsführer in allen wichtigen Schlüsseltechnologien aufzusteigen, darunter Energieerzeugung, E-Mobilität, Flugzeug-, Eisenbahn- und Schiffbau sowie Robotertechnik, Mobilfunktechnologie und Medizintechnik. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung liegen bereits heute höher als in der gesamten EU. Auf internationaler Ebene gilt es seitens China, im Rahmen der neuen Seidenstraße ein interkontinentales Infrastrukturnetz zwischen Asien, Europa und Afrika voranzutreiben.
Wir brauchen dringend einen europäischen Masterplan
Was ist unser Masterplan? Wer kann und darf diesen aufstellen? Und nehmen wir mal optimistischerweise an, die USA und China hielten es künftig überhaupt noch für erforderlich, sich mit Europa abzustimmen oder wollten mit uns Verhandlungen führen: Wen würden sie bitte anrufen? Wer wäre der Verhandlungsführer, wer hätte die Entscheidungskompetenz?
Der jüngste Europabesuch von Xi zeigt eindrucksvoll unser Dilemma und wie unsere selbst verursachte Schwächung dazu ausgenutzt wird, uns zu spalten: Xi spricht in Paris mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Er verhandelt zudem in Rom mit der italienischen Regierung und reist nach Kroatien zum Treffen der G-16-plus-1-Kooperation, welcher zahlreiche mittel- und südosteuropäische EU-Mitglieder angehören. Wie wäre es mit einem EU-China-Gipfel, statt sich bilateral gegeneinander ausspielen zu lassen?
Europa muss seine Kleinstaaterei überwinden
Die EU hat unstrittig bereits sehr viel für ihre Einwohner erreicht – zuvorderst Frieden, Wohlstand, freies Handeln und Reisen. Wir müssen nun aber dringend unsere an vielen wesentlichen Stellgrößen noch immer vorhandene Kleinstaaterei überwinden. Wir brauchen bei den großen und globalen Themen mehr und nicht weniger Europa. Wir müssen mit einer Stimme sprechen und verhandeln.
Langfristig wird selbst Deutschland als heute noch viertgrößte Volkswirtschaft der Welt allein betrachtet immer unbedeutender werden. Ganz zu schweigen von den meisten anderen EU-Mitgliedstaaten. Wir müssen endlich aufwachen und vereint als Europa denken, (ver-)handeln und uns massiv den wirklich wichtigen Dingen zuwenden. Das sind Infrastruktur, Bildung, Kinder, Welthandel, Umweltschutz und unsere Schlüsseltechnologien. Stattdessen belasten wir uns selbst: mit Brexit, Enteignungsdebatten, DSGVO und einer immer stärker ausufernden (europäischen) Überregulierung. Das Ergebnis: Wenn wir nicht aufpassen, werden wir zwischen den USA und China zerrieben.
Vita
Andreas Grünewald ist Gründer und Vorstand der Münchner Vermögensverwaltung FIVV AG. Das Unternehmen betreut Privat- und Unternehmerkunden, institutionelle Anleger und Stiftungen in ganz Deutschland. Seit 2014 ist er Vorsitzender des Verbandes unabhängiger Vermögensverwalter Deutschland (VuV). Er ist Fachautor und Referent sowie Gastdozent an Schulen und Universitäten.