Deutschland und auch die EZB sitzen in der Globalisierungsfalle

  • Robert Halver
  • Leiter Kapitalmarktanalyse
  • Baader Bank

FRANKFURT – „Alles, was wirtschaftlich schiefgehen kann, scheint derzeit schiefzugehen“, schreibt Robert Halver in seiner aktuellen Kolumne. Dabei würden diese neuen Krisen die EZB ziemlich alt aussehen lassen, ebenso wie den Globalisierungsgewinner Deutschland. Deutsche Politiker müssen jetzt beweisen, was sie draufhaben, schließt Halver.


Lesen Sie hier den Kommentar von Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse, Baader Bank:

„Seit Beginn der Globalisierung ist Deutschland einer ihrer größten Profiteure. In dieser Ära gab es zwar auch Wirtschaftsabschwünge. Doch mit sintflutartig billigem Geld wurden die konjunkturellen Dinge wie beim Orthopäden wieder geradegerückt. Die Inflation war dabei kein Engpassfaktor, denn die internationale Arbeitsteilung machte Preisanstiege zu Duckmäusern. Doch schon mit Corona, vor allem aber wegen des Ukraine-Kriegs, zeigt das gute alte Globalisierung-Bild deutlich Risse.

Was für herrliche Zeiten für (Wirtschafts-)Politiker, die sich zwar mit Krokodilstränchen über die „alternativlose“ Lösung von europäischen Stabilitätskriterien mokierten, aber ansonsten im Kinosessel saßen und der lieblichen Globalisierung bei ihrem Wirken zuschauen konnten.

Doch ist der Liebesfilm „Die Leichtigkeit des globalen Seins“ beendet. Jetzt läuft der Dokumentarfilm „Murphy’s Law“: Alles, was wirtschaftlich schiefgehen kann, scheint auch schiefzugehen. Krieg, geopolitische Unsicherheit, Sanktionen und Gegensanktionen, Rohstoffknappheit, brüchige Lieferketten und brutaler Inflationsdruck setzen der Weltkonjunktur und ihren Hauptdarstellern mächtig zu.

Schon bei den Beatles heißt es: „Money can’t buy me love“

Diese neuen Krisen lassen die EZB ziemlich alt aussehen. Erstens ist Zinspolitik mittlerweile konjunkturwirkungsarm, wenn nicht -los wie ein zu oft eingenommenes Antibiotikum. Denn wird das Zinsniveau von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus immer kleiner, fällt auch der wachstumsfördernde Zinshebel immer kleiner aus. Es ist ein klarer Unterschied, ob die Bundesbank ihren Leitzins ab 1992 von 8,75 auf 2,5 Prozent oder die EZB ihren ab 2011 von 1,5 auf null reduzierte. Und jetzt bei Nullkommanix würden weitere Zinssenkungen so wenig helfen wie Hustensaft gegen Krampfadern.

Zweitens haben wir es heute nicht mit klassischen Konjunkturschwächen zu tun. Es fehlt nicht an Nachfrage, sondern an Angebot, insbesondere bei Rohstoffen und Vorprodukten. Sie sind knapp wie eine Weihnachtsgans, die man erst am 24. Dezember besorgen will. Und jetzt kommen auch noch kriegerische Auseinandersetzungen in der Ukraine hinzu, die Produktionsstätten und Transportkapazitäten von Grundstoffen zerstören. Oder sie drohen, nicht mehr abgenommen oder geliefert zu werden, weil der Westen den Rubel nicht rollen lassen will.

Überhaupt reden wir nicht mehr nur von knappen harten, sondern auch weichen (Agrar-)Rohstoffen. Was nutzt der fruchtbarste ukrainische Boden, wenn die Landarbeiter im Krieg sind und der Kraftstoff für Traktoren & Co. für das Militär reserviert ist?

Gegen diese bösen angebotsseitigen Rezessionsprobleme kann selbst die große Liebe der EZB wenig ausrichten. Man könnte sagen, sie sitzt in der Globalisierungsfalle. Übrigens zweimal. Denn auch der globale Deflationstrend hat sich angesichts der dramatischen Rohstoff- und Logistikumstände in einen Hyperinflationstrend verwandelt.

Eigentlich müssten die Damen und Herren der EZB jetzt in die Rolle von Währungshütern schlüpfen. Doch dann würden sie der ohnehin in Richtung Rezession taumelnden Konjunktur das Messer noch tiefer in den Rücken rammen. Und da ist ja noch der scheinbar unerschütterliche Glaube der EZB-Direktoren, dass die Inflation irgendwann schon wieder sinken wird. Tatsächlich sind die Atheisten in der Minderheit.

Auf Globalisierungs-Schocks sind wir nicht eingestellt

Grundsätzlich rächt sich jetzt das bequeme und blinde Vertrauen europäischer und deutscher Politiker auf das Geschäftsmodell einer friedvollen Bullerbü-Welt mit immer verfügbaren Rohstoffen bei geldpolitischem Feuerschutz. Berlin glaubte wohl an das Ananym des Gesetzes von Murphy, also Yhprum: Alles, was funktionieren kann, wird auch funktionieren. Doch immer wieder zeigt sich, dass (politischer) Müßiggang aller Laster Anfang ist.

Am Beispiel der deutschen Autoindustrie, die immer noch eines unserer wirtschaftlichen Herzstücke ist, zeigt sich, dass die Vorteile der Globalisierung schnell in Nachteile umschlagen können.

Während Corona „nur“ zu Lieferengpässen führten, kommt es über den Ukraine-Krieg sogar zu Lieferausfällen, etwa bei Kabelbäumen. Kabelbäume? Überraschenderweise sind sie bei der Autoproduktion nicht banal, sondern sehr bedeutend. Man kann sie nicht ersetzen oder später einbauen. Und je nach Hersteller und Modell werden sie speziell angefertigt, sozusagen maßgeschneidert. Und da einige deutsche Autobauer Kabelbäume bis zu 100 Prozent aus der Ukraine beziehen und Lieferalternativen in befriedigender Menge nicht verfügbar sind, macht sich jetzt ein riesiges Klumpenrisiko bemerkbar.

Selbst wenn sie produziert würden, könnten sie nicht geliefert werden. Die fast 100 Tausend ukrainischen Lkw-Fahrer, die im europäischen Warenverkehr unterwegs waren, verteidigen heute ihre Heimat. Und es geht ja nicht nur um Kabelbäume, sondern um zahllose Sonderausstattungen und Gimmicks. Es droht eine Vollbremsung der deutschen Autoindustrie mit allen Folgen für die Beschäftigung.

Eine Globalisierung 2.0 wie vor Corona und Krieg ist mehr als fraglich

„Ein bisschen Frieden“ wie im Siegertitel von Nicole beim Eurovision Song Contest 1982 besungen, ist bislang nur eine vage Hoffnung. Damit ist ebenso völlig unklar, wann und ob die gegenseitigen Wirtschaftssanktionen aufgehoben werden. Die Zukunft des bisherigen deutschen Geschäftsmodells ist ungewiss.

Müssen wir also in Zukunft viel mehr im Inland produzieren? Bleiben wir beim Beispiel der Autoindustrie. Damit würden die Kostenvorteile der Globalisierung wegfallen und deutsche Autos mindestens im Massenmarkt international nicht mehr konkurrenzfähig sein. Ohnehin muss man fragen, ob der deutsche Standort – ähnlich wie die Bundeswehr – überhaupt „einsatzbereit“ ist. Fehlende Digitalisierung, Infrastruktur, Stromverfügbarkeit zu konkurrenzfähigen Preisen und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit sind weitere Handicaps.

Alle unsere Abhängigkeiten, Energie- und Strukturdefizite müssen auf den Tisch und ohne gesundbeterische Ideologien und moralische Überkorrektheit schonungslos diskutiert und maximal schnell gelöst werden. Grundsätzlich müssen Europa und sein Binnenmarkt gestärkt werden, damit unser Kontinent geopolitisch und aufgrund seiner Wirtschaftskraft für voll genommen wird. Liebe Politiker, jetzt könnt ihr mal so richtig beweisen, was ihr draufhabt.

Was haben gute Politiker mit Rohstoffen gemeinsam? Sie sind knapp.“

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