Deutsche Industrie: Aktuelle Situation täuscht über strukturelle Schwächen hinweg

  • Axel D. Angermann
  • FERI Gruppe

FRANKFURT – Die deutschen Autohersteller stehen vor strategischen Herausforderungen, sagt Axel D. Angermann, der Chef-Volkswirt der FERI Gruppe. Er hält neue Geschäftsmodelle und eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für unerlässlich.


Ab hier folgt der unredigierte Kommentar von Axel D. Angermann, Chef-Volkswirt der FERI Gruppe:

Die Industrie ist derzeit der wichtigste Stabilisator der konjunkturellen Entwicklung in Deutschland: Nach dem heftigen Einbruch der Produktion um fast 30 Prozent vor einem Jahr gelang eine schnelle Erholung, im Januar lag die Produktion noch um knapp 3 Prozent unter dem Niveau unmittelbar vor Ausbruch der Pandemie. Gebremst wurde die Aufwärtsentwicklung zuletzt vor allem von fehlenden Speicherchips für die Automobilherstellung.
Die deutsche Industrie profitiert vor allem von der starken Nachfrage aus ihren beiden wichtigsten außereuropäischen Absatzmärkten: Die Exporte nach China liegen inzwischen fast 10 Prozent höher als vor Ausbruch der Pandemie, die in die USA nur knapp darunter.

Deutsche Automobilindustrie unter Druck

Wirft man allerdings einen generellen Blick auf die Lage der Industrie, trübt sich das Bild deutlich ein: Die Industrie befand sich nämlich vor einem Jahr bereits in einer Rezession. In den zwei Jahren vor Ausbruch der Pandemie war die Produktion um etwa 7,5 Prozent gesunken. Einen besonders hohen Anteil daran hatte die Automobilindustrie, deren Produktion in diesen zwei Jahren um mehr als 20 Prozent zurückging. Unabhängig von der Corona-Pandemie steht die Schlüsselbranche vor vier strategischen Herausforderungen.

Strategische Herausforderungen der Automobilindustrie

Der Anteil Deutschlands an der Gesamtproduktion der deutschen Autohersteller sinkt seit 2005 von damals noch deutlich mehr als 50 Prozent auf aktuell (2020) weniger als 30 Prozent. Dies spiegelt einerseits eine stagnierende Inlandsnachfrage und einen rückläufigen Marktanteil deutscher Hersteller an den inländischen PKW-Verkäufen wider, lässt aber auch auf eine sinkende Attraktivität des Produktionsstandorts Deutschland schließen. Das seit vielen Jahren praktisch unveränderte Unternehmenssteuerregime, aufgebrauchte Vorteile in der Entwicklung der Lohnstückkosten, hohe Energiepreise und im internationalen Vergleich bestenfalls durchschnittliche Bildungsausgaben sind hierfür einige Gründe.

China wird in immer stärkerem Maße von einem Käufer deutscher Produkte zu einem konkurrenzfähigen Hersteller innovativer Erzeugnisse. Der neue, elektrisch betriebene BMW IX3 wird beispielsweise in China für den Weltmarkt entwickelt und gebaut. In dem Maße, in dem China mit seiner Strategie erfolgreich ist, in ausgewählten Bereichen selbst eine führende Rolle einzunehmen, geht das Absatzpotenzial von in Deutschland hergestellten Produkten sowohl in China als auch auf den globalen Drittmärkten zurück.

Mit der Umstellung auf den Elektroantrieb und der Entwicklung hin zu teilautonomem Fahren werden bisherige Stärken der deutschen Automobilindustrie, die in der Perfektionierung von Verbrennungsmotoren lagen, entwertet. Die Unternehmen sehen sich mit Tesla, aber auch mit Google und Apple neuartigen Wettbewerbern gegenüber und müssen sich selbst zum Teil neu erfinden, um in diesem Wettbewerb bestehen zu können.

Die globale Nachfrage wird in den kommenden Jahren weniger dynamisch wachsen als in den ersten 20 Jahren des Jahrhunderts. In den Industrieländern sind viele Märkte gesättigt, der Klimaschutz dürfte die individuelle Mobilität erheblich verteuern, und auch aus den Schwellenländern fallen die Impulse geringer aus.

Diese Herausforderungen sind in der Autoindustrie besonders deutlich ausgeprägt, betreffen aber in unterschiedlichem Maße auch andere Bereiche der deutschen Industrie. Dass die Industrie auf Dauer eine Stütze der deutschen Wirtschaftsentwicklung bleibt, ist also kein Selbstläufer, sondern setzt erhebliche Anstrengungen in den Unternehmen selbst wie auch in der Gestaltung der Rahmenbedingungen voraus – mit offenem Ausgang.

Zurückzum Seitenanfang