Der wahre Grund für Rotationen aus Wachstumsaktien in Substanzwerte

  • Sean Markowicz
  • Schroders

FRANKFURT – „Die Vorstellung, dass die Outperformance von Substanzwerten von Zinsen, der Inflation oder dem Wirtschaftswachstum abhängt, könnte falsch sein“, sagt Schroders-Analyst Sean Markowicz. Er liefert alternative Ansätze mit dem Ergebnis: „Fortsetzen könnte sich die überdurchschnittliche Entwicklung dennoch.“


Ab hier folgt die unredigierte Analyse von Sean Markowicz, Stratege, Team Research und Analytics, Schroders:

„Eines der dominierenden Anlagethemen der vergangenen zehn Jahre war die langfristige Underperformance von Substanzwerten (Value) gegenüber Wachstumsaktien (Growth). Viele machten dafür die sinkenden Anleiherenditen, die niedrige Inflation und das verhaltene Wirtschaftswachstum verantwortlich. Vor Kurzem hat sich das Blatt jedoch gewendet. Zusammen mit einem signifikanten Anstieg der Anleiherenditen und wirtschaftlichem Optimismus erlebten Substanzwerte ein erstaunliches Comeback. Ein Beispiel: Seit der Erfolgsmeldung von Pfizer über die Entwicklung eines Covid-19-Impfstoffs haben US-Substanzwerte ihre Wachstumspendants um rund 12 % überflügelt.

Diese Marktbewegungen verstärkten natürlich den allgemeinen Glauben, dass höhere Zinsen und Wachstumserwartungen für die Rotation von Wachstums- in Substanzwerte verantwortlich seien. Dies könnte zwar stimmen, doch die Vergangenheit zeigt, dass die Beziehung zwischen den Renditen von Substanzwerten und solchen wirtschaftlichen Variablen labil ist. Änderungen der Zinsen führen nämlich nicht automatisch zu einer Outperformance oder Underperformance.

Angesichts der relativ großen Bewertungsunterschiede zwischen Substanz- und Wachstumsaktien dürften sich Substanzwerte auch in den kommenden Jahren überdurchschnittlich entwickeln. Die Vorstellung, dass ihre Erholung hauptsächlich von den Zinsen, der Inflation oder dem Wirtschaftswachstum abhängt, dürfte jedoch überzogen sein.

Das Durationsargument
Allgemein wird angenommen, dass Wachstumsaktien stärker von sinkenden Anleiherenditen profitieren als Substanzwerte, da sich ihre erwarteten Cashflows viel weiter in die Zukunft erstrecken. Das heißt, dass sie eine längere „Duration“ haben und daher sensibler auf Veränderungen des Diskontierungssatzes reagieren, die zur Bewertung dieser Cashflows verwendet werden.

Der risikolose reale (inflationsbereinigte) Zinssatz ist eine Komponente des Diskontierungssatzes. Solange alle anderen Voraussetzungen gleich sind, dürften die Kurse von Wachstumsaktien daher stärker von einem Rückgang der realen Anleiherenditen profitieren als die der Substanzwerte.
Obwohl die Renditen von Substanzwerten gegenüber Wachstumsaktien in den vergangenen Jahren positiv mit Veränderungen der realen Anleiherenditen korrelierten, war die Beziehung im Zeitverlauf nicht immer konstant. So betrug die Korrelation zwischen der Wertentwicklung des MSCI USA Value Index gegenüber dem Growth Index und der Veränderung der Rendite von zehnjährigen inflationsgeschützten US-Treasuries (TIPS) in den vergangenen drei Jahren +0,55. In den vergangenen 50 Jahren lag die durchschnittliche Korrelation jedoch bei +0,07 und schwankte zwischen positiver und negativer Korrelation. Die Erfahrung der vergangenen drei Jahre ist somit keineswegs repräsentativ, sondern ein Ausreißer. In keinem anderen Dreijahreszeitraum seit den 1990er-Jahren war die Korrelation so hoch.

Dies lässt darauf schließen, dass sich Substanzwerte nicht automatisch besser entwickeln, wenn die realen Renditen steigen und umgekehrt. Tatsächlich war die Beziehung in den 2010er-Jahren positiver als im langfristigen Durchschnitt, was einige Marktbeobachter auf das Niedrigzinsumfeld zurückführten. In den 1980er-Jahren waren die Korrelationen aber ebenfalls positiver. Doch diese Zeit war keineswegs eine Zeit der niedrigen Renditen. Dies untergräbt das Argument, dass die niedrigen Renditen für die größere Korrelation verantwortlich seien.

Was könnte der instabilen Korrelation zugrunde liegen? Zunächst einmal gehen Veränderungen der Realzinsen häufig mit Veränderungen der Wachstums- und/oder Inflationserwartungen einher, die sich auf die erwarteten künftigen Cashflows auswirken können. Es ist aber auch möglich, dass sich die mit diesen Cashflows assoziierte Risikoprämie, die eine weitere Komponente des Diskontierungssatzes ist, verändert hat. Diese Effekte können sich gegenseitig aufheben, sodass es schwieriger wird, die Auswirkungen von Zinsschwankungen auf die Renditen von Substanz- gegenüber Wachstumsaktien eindeutig zu bestimmen.

Das Tempo der Entwicklung ist wichtiger
Ein weiterer Faktor könnte die Geschwindigkeit der Zinsentwicklungen sein. Die Wertentwicklung scheint keinen Bezug zu einem allmählichen Anstieg zu haben. Heftige und plötzliche Veränderungen werden jedoch mit großen Auswirkungen assoziiert. So haben sich Substanzwerte im Durchschnitt besser entwickelt, wenn die realen Renditen um über zwei Standardabweichungen gestiegen sind (z.B. +25 Basispunkte heute). Wenn die realen Renditen jedoch um eine oder weniger Standardabweichungen anzogen, waren die relativen Renditen im Durchschnitt neutral. Andererseits war ein Rückgang der realen Renditen in der Regel besser für Wachstumsaktien als für Substanzwerte, unabhängig vom Ausmaß der Entwicklung.

Kleine Veränderungen der Inflationserwartungen, gemessen an der Renditedifferenz zwischen nominalen und inflationsgeschützten US-Treasuries, hatten indes in der Regel ebenfalls keinen Einfluss auf die Wertentwicklung. Im Gegensatz zur verbreiteten Meinung entwickelten sich Substanzwerte tendenziell sogar schwächer als Wachstumsaktien, wenn die Inflationserwartungen um eine oder mehrere Standardabweichungen stiegen. Das könnte daran liegen, dass die realen Renditen sinken, wenn die nominalen Renditen unverändert bleiben und die Inflationserwartungen steigen, was zu noch höheren Bewertungen von langfristigen Wachstumsaktien führt.

Substanzwerte sind nicht zwangsläufig zyklisch
Eine alternative Erklärung für die unberechenbare Beziehung zwischen Substanzwerten und Anleiherenditen ist, dass die Zyklusabhängigkeit im Vergleich zu Wachstumsaktien im Zeitverlauf nicht konstant ist. Zyklische Sektoren entwickeln sich in der Regel besser, wenn das Wirtschaftswachstum anzieht und die Renditen steigen, während sich defensive Sektoren besser halten, wenn das Wirtschaftswachstum abbremst und die Renditen sinken. Von 2009 bis 2017 waren Zykliker im Value-Segment übergewichtet vertreten, während sie von 2017 bis 2020 untergewichtet und defensive Werte übergewichtet waren.

Unter dem Strich hatten solche Rotationen zur Folge, dass Substanzwerte im Durchschnitt ein sehr ähnliches zyklisches Profil aufwiesen wie Wachstumsaktien. Die Abbildung unten veranschaulicht dies. Anleger sollten nicht annehmen, dass die Zyklizität von Substanzwerten und damit auch ihre Korrelation zu den Anleiherenditen von Dauer ist. Derzeit weisen Substanzwerte zwar eine stark zyklische Tendenz auf. Doch die Vergangenheit lässt darauf schließen, dass sich diese Beziehung in Zukunft lockern könnte.

Gewinnaufschwünge korrelieren in der Regel mit Wendepunkten für Substanzwerte
Ein wirtschaftlicher Indikator, der in der Regel eine Rotation aus Wachstums- in Substanzwerte signalisiert, ist ein Wendepunkt beim Wachstum der Gewinne je Aktie (EPS). In der Vergangenheit haben sich Substanzwerte zum Beispiel in den zwölf Monaten nach dem Tiefpunkt des EPS-Wachstums im Durchschnitt um 6 % besser entwickelt als Wachstumsaktien.

Nach dem massiven Rückgang im vergangenen Jahr erhielten Substanzwerte zuletzt wieder enormen Aufschwung. Dieses Muster ist einleuchtend. Bei einem verhaltenen Gewinnwachstum sind die Anleger eher bereit, mehr für wachstumsstärkere Unternehmen zu zahlen, was sich in höheren Kurs-Gewinn-Verhältnissen niederschlägt. Wenn die Gewinne jedoch kräftig wachsen (oder zumindest damit gerechnet wird), sind die Anleger im Hinblick auf die Bewertungen wählerischer. Dies führt zu rückläufigen Wachstumsaktien, da günstigere Aktien wieder gefragt sind.

Die Beziehung zwischen Value und Gewinnwachstum kann sich jedoch manchmal lösen – insbesondere nach einer Konjunkturerholung, wenn günstigere Unternehmen nach einer Höherbewertung nicht mehr zum Value-Universum zählen. Schließlich enthalten weder Value- noch Growth-Indizes immer die gleichen Wertpapiere. Wenn Wachstumsunternehmen ausreifen, können ihre Bewertungen unter Druck geraten, bis sie aus dem Wachstumsuniversum herausfallen. Ebenso gilt: Wenn günstigere Unternehmen Anleger anziehen, können die Bewertungen von Substanzwerten steigen, sodass sie aus dem Value-Universum ausscheiden. Dies könnte einer der Gründe für die Abschwächung der Outperformance von Substanzwerten in den Jahren 2010 und 2017 sein, da sich die zyklische Ausrichtung des Value-Bereichs bereits normalisiert hatte.

Handelt es sich um eine nachhaltige Value-Rallye oder eine weitere kurzlebige Rotation?
Eine Folge der zehnjährigen Outperformance von Wachstumswerten ist die mittlerweile sehr teure Bewertung. In der Vergangenheit hätten derart hohe Bewertungen auf negative Renditen gegenüber Substanzwerten hingedeutet. US-Wachstumsaktien notieren zum Beispiel derzeit mit dem 52-Fachen ihrer zyklusbereinigten historischen Gewinne (Shiller-KGV) im Vergleich zum 21-Fachen bei Substanzwerten. Das ist das teuerste relative Niveau seit der Dotcom-Blase im Jahr 2000. Vor fünf und erst recht vor zehn Jahren war dies nicht der Fall. 2016 und 2011 wurden Wachstumsaktien mit erheblich niedrigeren Aufschlägen gegenüber Substanzwerten gehandelt. Heute sind die Bewertungen jedoch weit weniger günstig. Das heißt, dass die Wahrscheinlichkeit einer nachhaltigen Value-Rallye größer ist als je zuvor.

Das Schlimmste liegt wahrscheinlich hinter uns
Die steigenden Anleiherenditen und Wachstumserwartungen könnten der Auslöser der jüngsten Rotation in Substanzwerte gewesen sein. Die Vergangenheit zeigt jedoch, dass diese Korrelationen nicht immer andauern. Fluktuationen und Veränderungen der Zusammensetzung von Value- und Wachstumsindizes im Laufe der Zeit haben zur Folge, dass ihre allgemeine Relation zu den Zinsen variiert.

Die Geschwindigkeit von Veränderungen im gesamtwirtschaftlichen Umfeld und das relative zyklische Engagement von Substanzwerten und Wachstumsaktien können bedeutende Faktoren für die Renditen sein. Die wichtigste Erkenntnis aus diesen Beobachtungen ist, dass höhere Zinsen und Wirtschaftswachstum möglicherweise keine unbedingten Voraussetzungen für eine Umkehr der langfristigen Entwicklung von Substanzwerten sind. Der Preis, den Anleger zahlen, ist vermutlich ein zuverlässigerer Indikator für die künftigen Renditen. Da Wachstumsaktien derzeit mit relativ hohen Aufschlägen gehandelt werden, sind ihre Chancen für das kommende Jahrzehnt zunehmend ungünstig.“

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