Bessere Chancen am Aktienmarkt – bei weiterhin hohem Risiko

  • Prof. Dr. Jan Viebig
  • ODDO BHF AG

FRANKFURT – „Aus dem Blickwinkel langfristig orientierter Investorinnen und Investoren, die eine gewisse Volatilität „aushalten“ können, macht es Sinn, schrittweise etwas optimistischer zu werden“, sagt Prof. Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF AG, „allerdings ohne die erhöhten Risiken dabei auszublenden.“

Ab hier folgt der Marktkommentar von Prof. Dr. Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF AG:
„Sommer, Sonne, Urlaubszeit. Unter den Anlegern will sich die sommerliche Leichtigkeit dennoch nicht recht einstellen. Der Grund dafür: Aufgrund des Angebotsschocks infolge des Ukraine-Konflikts ist die Inflation stark gestiegen. Die Notenbanken beiderseits des Atlantiks erhöhen die Leitzinsen und das volkswirtschaftliche Wachstum verlangsamt sich. Russland setzt Erdgas weiterhin als Waffe ein und droht implizit mit einem Gasembargo.
Sicherlich kein Umfeld, zu mutig zu werden. Aber es zeichnen sich nunmehr erste Lichtblicke ab: Die Bewertungen an den Aktienmärkten sind deutlich zurückgekommen. Die Inflation wird in den nächsten Monaten vermutlich den Höhepunkt überschreiten. Und die 10- jährigen Zinsen sind gerade in Deutschland aufgrund der gestiegenen Rezessionsängste auf unter 1% gefallen, was die relative Attraktivität von Aktien gegenüber Anleihen verbessert.
Für langfristige Investoren und Investorinnen wird es Zeit, langsam und schrittweise wieder etwas mehr Risiken am Aktienmarkt einzugehen. Denn langfristig gilt: Aktien sind eine sehr attraktive Anlageklasse.
Inflation wird Höchstpunkt überschreiten
Die Inflationsraten in Europa und den USA bewegen sich mit rund 9% auf historischen Höchstständen seit den 1980er Jahren. Das ist bei weitem zu hoch, um als Anleger oder Notenbanker entspannt zu sein. In unserem Hauptszenario gehen wir allerdings davon aus, dass die Inflation im Jahr 2023 deutlich abnehmen wird. Dazu tragen vor allem Basiseffekte der Energiepreisentwicklung bei.
Der Preis für die Rohölsorte Brent war im Laufe des Jahres 2021 und in den ersten Monaten des Jahres 2022 kontinuierlich gestiegen, von gut 50 USD Anfang 2021 bis auf fast 80 USD Ende 2021 und auf über 120 USD im März 2022. In den nächsten Monaten wird man also die aktuellen Rohölpreise mit immer höheren Rohölpreisen aus dem Vorjahr vergleichen. Die aus höheren Energiepreisen resultierende Inflation wird daher abnehmen, falls wir keinen weiteren Energiepreisschock erleben.
Ein weiterer Hinweis auf einen bevorstehenden Rückgang der Inflationsraten sind die fallenden Inflationserwartungen. Inflationserwartungen sind ein wichtiger Treiber für die zukünftige Preisentwicklung, da sie Einfluss auf die Lohnforderungen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sowie die Preisgestaltung durch die Unternehmen haben. Die längerfristigen Inflationserwartungen der Marktteilnehmer haben sich gegenüber den Höchstständen von April/Mai 2022 deutlich zurückgebildet. Die erwartete durchschnittliche Inflationsrate in 5 Jahren über 5 Jahre ist in der EWU auf gut 2% gesunken, in den USA auf 2,5%. Wenn sich die Hinweise auf eine Beruhigung der Inflation bestätigen sollten, wäre dies für die Notenbanken vermutlich ein Signal, die Leitzinsen nicht über die am Markt eingepreisten Schritte hinaus zu erhöhen.
Einen ersten zarten Hinweis auf künftig weniger aggressive Zinsanhebungen gab am vergangenen Mittwoch Fed Chef Powell. Aktuell rechnen die Märkte mit einer Plateaubildung der Leitzinsen im Bereich von 31⁄2% bei der US-amerikanischen Federal Funds Rate bzw. rund 11⁄4% beim Einlagensatz der EZB Mitte nächsten Jahres.
Wachstum wird sich dabei weiter verlangsamen
Zahlreiche Indikatoren signalisieren derzeit Rezessionsgefahren wie etwa die Inversion der US-Zinskurve, das gesunkene Konsumentenvertrauen in den USA und der stark gefallene ifo-Geschäftsklimaindex in Deutschland. Dennoch gilt: Die Schätzungen der meisten Wirtschaftsforscher gehen davon aus, dass die Wirtschaft in den Industrieländern in diesem und im nächsten Jahr weiterwachsen wird.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat in dieser Woche seine überarbeiteten Wachstumsprognosen präsentiert. Der IWF rechnet mit einer deutlichen Verlangsamung des Wachstums in den USA von 2,3% (2022) auf 1,0% (2023) und in der Eurozone von 2,6% (2022) auf 1,2% (2023). Die Prognosen deuten auf eine „technische“ Rezession mit mindestens zwei Quartalen negativen Wachstums, aber nicht auf eine schwere Rezession mit massiven Gewinneinbrüchen der Unternehmen und deutlich steigender Arbeitslosigkeit hin. Tatsächlich zeigen die gerade bekanntgegebenen, vorläufigen US-Wachstumszahlen für das zweite Quartal bereits einen zweiten Rückgang des realen BIP in Folge, das allerdings bei einer Arbeitslosenquote von 3,6%.
In Europa steht weiterhin das Problem der Erdgasversorgung im Raum. Am Terminmarkt in den Niederlanden (TTF) ist der Preis für eine Megawattstunde (MWh) Erdgas seit Anfang Juli um annähernd 50% auf über 210 €/MWh gestiegen. Bisher fließt weiterhin Gas durch Nord Stream 1 und der aktuelle Füllstand der Lager ist in Deutschland auf 66% gestiegen (Stand: 24.7.2022, Quelle: Bruegel Datasets).
Es wird von den künftigen Liefermengen, den Wetterbedingungen und dem Erfolg der Einsparungen abhängen, ob und wie „eng“ es im Verlauf des nächsten Winters wirklich wird. Eine länger andauernde Unterbrechung der Erdgaslieferungen aus Russland würde nach unserer Einschätzung zu einer schweren Rezession in Deutschland und Europa führen.
Aktien sind zumindest in Europa nicht mehr teuer
Absolute Schnäppchen sind Aktien derzeit nicht, insbesondere nicht in den USA. Der europäische Markt (EuroStoxx und Dax 40) handelt bei dem knapp 1,5-fachen seines Buchwerts und damit ganz leicht unter den langfristigen Durchschnittsniveaus der Vergangenheit. Der US-Aktienmarkt dagegen wird zur Jahresmitte mit dem 3,8-fachen des Buchwerts bewertet und damit weiterhin über den langfristigen durchschnittlichen Niveaus der letzten Dekaden.
Zu den Gründen für die höhere Aktienbewertung in den USA im Vergleich zu Europa zählen die im Durchschnitt deutlich höhere Profitabilität von US-Unternehmen und die höhere Gefahr eines Energiepreisschocks in Europa. Die Kurs- / Gewinn-Verhältnisse zeigen ein ähnliches Bild: Der S&P 500 und der Nasdaq Composite handeln anders als die europäischen Börsen weiterhin bei KGVs, die über dem langfristigen Durchschnitt liegen.
Die Auf- bzw. Abwärtsrisiken einer milden Rezession sind nach unserer Überzeugung weitgehend eingepreist. Kurschancen und -risiken sind nach der Kurskorrektur im ersten Halbjahr 2022 nunmehr besser ausgewogen. Das hat uns veranlasst, am Montag dieser Woche zu einer neutralen Positionierung am Aktienmarkt zurückzukehren, nachdem wir zehn Tage vor dem Kriegsbeginn am 14. Februar 2022 – relativ zu den von unseren Kundinnen und Kunden definierten strategischen Aktienquoten – Aktien leicht untergewichtet hatten.
Aus dem Blickwinkel langfristig orientierter Investorinnen und Investoren, die eine gewisse Volatilität „aushalten“ können, macht es Sinn, schrittweise etwas optimistischer zu werden – ohne die erhöhten Risiken dabei auszublenden.“

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